Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Wir sind wer. Was - das bestimmen wir selbst.

∞  1 August 2009, 07:57

Nationalfeiertag. In Deutschland trauen Sie sich langsam, am 3. Oktober zum Tag der Deutschen Einheit ne Fahne zu schwenken. In Frankreich ist am 14 Juillet jeder Franzose Teil der Grande Nation. Und wir Schweizer? Wir haben Ende des letzten Jahrhunderts gelernt, mehr oder weniger pünktlich zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft, dass die drei Herren auf dem Rütli daselbst vielleicht sich wirklich gegenseitig was geschworen und das auch ernst (und gut) gemeint haben, dass es aber wohl kaum so viel Bedeutung hatte, wie ich im Geschichtsunterricht noch zu glauben lernte und danach wusste.
Ist das nun schlimm? Nein. Der Fussballer sagt: “Wichtig ist auf dem Platz.” Und genau so werden wir gefragt, wie wir uns selbst denn heute sehen, wer wir zu sein glauben und wer wir sein wollen. Wir sind ein kleines Land, und wir werden je länger je mehr auch vom Ausland so wahr genommen werden. Entscheidend aber ist für uns, wie wir uns selber wahr nehmen. Ob wir an uns glauben. Und ob wir die Errungenschaften wert sind, die sich unser Land erarbeitet hat.
Wir befürchten den Verlust demokratischer Grundrechte in der schwierigen Einbindung oder Abgrenzung zu Europa. Aber was tun wir im Inneren für diese Rechte? Nutzen wir sie denn selbst, machen wir bei der Meinungsbildung in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen mit? Oder sind wir nur die lauten (Aus-)Rufer, die bei jeder Gelegenheit bejammern, dass “die anderen da oben” alles bestimmen? Vermuten wir überall Abzocker, und geben wir damit die eigene Option für Zivilcourage auf? Schauen wir denn überhaupt noch genau hin, in die Richtung, in die wir allzu oft all zu laut brüllen?
Die Welt wird in der Globalisierung zum Dorf und die Schweiz mag ein Dorfplatz sein, eher abseits des Zentrums. Sie bietet aber auch Orientierung, ein Staatsgebilde, das eine noch immer kultivierte Form der Trennung zwischen gesetzgebender, regierender und richtender Gewalt besitzt, und – in Teilen zumindest – eine vierte Gewalt der Medien, die genau so wenig nur brüllen – sondern wirklich hinschauen sollte. In der Regel, so ist zu vermuten, dürfte sie das nämlich bei uns auch noch.
Es ist bei ihr wie mit uns: Wenn wir die Dinge sich verschlechtern sehen, so haben wir immer erst zu fragen, inwiefern wir daran mitschuldig sind?
Es gibt in meinem Umfeld von Jahr zu Jahr mehr reaktionäre Stimmen, welche “die Ausländerproblematik”, die “Sozialschmarotzer” und die “Asylanten” als jene ausmachen, die unserem Wohlstand wie Blutegel aufhocken. Um so mehr wünsche ich mir, dass die Generation nach mir im Geschichtsunterricht nicht so viel vom Rütlischwur hört, als von den Zeiten am Ursprung unseres Wohlstands, als es immer wieder Eidgenossen waren, die in die Welt zogen oder die Welt zu uns holten, auf dass wir miteinander und im Wettbewerb besser wurden. Wir haben stets von der Einbindung von Fremden profitiert und wir haben viele Freunde gewonnen – die NICHT nur des hohen Lebensstandards wegen bei uns geblieben sind.
Das können wir uns alle mit einander erhalten. Dazu gehört, dass wir endlich ein Mass finden für unseren Umgang mit Fremden. Ein Mass, das klare Kriterien dafür festlegt, welche Wertvorstellungen und kulturellen Prinzipien im Zusammenleben mit und unter uns unverzichtbar sind (und durchgesetzt werden) und einem Füllhorn an aufrichtig und ehrlich Anteil nehmender Neugier, das über jenen ausgeschüttet werden soll, die selbst mehr sein wollen bei uns als Arbeitnehmer in einem fremden Land.
Die Schweiz ist – mit einem Ausländeranteil von 21% – und vielen eingebürgerten Mitschweizern – seit je ein multikulturelles Land. Das hat uns Weltoffenheit und Beweglichkeit gelehrt und uns erlaubt, als Land ohne Rohstoffe mit höchst beschränkten Ressourcen an Mensch und Boden in verschiedensten Bereichen Massstäbe zu setzen. Unser Land und die Zukunft hängt nicht von der Kraft der keifenden Vorruheständler ab. Gott sei Dank nicht. Und darum sollten wir alles dafür tun, dass die Jungen in unserem Land eine Perspektive haben. Für Aus-Bildung auf Top-Niveau gibt es keine Alternative. Für den Glauben an Visionen auch nicht. Ein kleines Land zu sein, kann auch ein Vorteil sein: Eine bahnbrechende Idee hat grosse Auswirkungen. Und wir besitzen Kommunikations- und Verkehrsnetze, mit denen wir alle zusammen auf sehr kurzen Wegen an gemeinsamen Zielen arbeiten können.
Die Welt ist komplizierter geworden. Das ist nicht in erster Linie ein Problem. Sondern eine Chance. Auch, weil in einem Land, das wohl die älteste Demokratie der Welt repräsentiert, tatsächlich sehr viel mehr innere Kraft steckt, als wir selbst glauben. Und dafür einen Nationalstolz zu entwickeln, ist mehr als nur opportun. Wir schulden das geradezu jenen, die dafür Herzblut und früher echtes Blut vergossen haben.


Bilder von oben nach unten:
Bertrand Piccard, Jean Tinguely, Claude Nicollier, Roger Federer, Max Frisch, Henri Dunant, Ernesto Bertarelli, Johanna Spyri
zu finden auf der Webseite Famous Swiss People