Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Wir sind nicht alle katholisch, aber wir sind alle gefordert

∞  4 April 2010, 18:40

Der Papst hat seinen Ostersegen gesprochen. Damit ist die Karwoche Vergangenheit – und damit auch die Chance, mit einer Art “Mea Culpa-Erklärung” als katholische Kirche eine Kehrtwende einzuläuten, welche eine radikale Neuausrichtung des Umgangs mit Sexualität in und ausserhalb der Kirche erlaubt hätte.
Solche Erwartungen waren und sind natürlich übertrieben. Kein Wort des Papstes, der zuvor als Vorsteher der Glaubenskongregation für die Behandlung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche in letzter Konsequenz zuständig war, ist aber manches Wort zu wenig. Es könnte sich zur Katastrophe ausweiten. Damit allerdings sind wir bereits ein Teil der Kritik, die wir auch der katholischen Kirche vorwerfen: Dass sie sich nämlich mehr um die Institution der Kirche sorgt, als um den Umgang mit den Gläubigen. Denn wir reklamieren selbst – natürlich – das Leid der Opfer und fordern deren Wiedergutmachung, bzw. als einzigen realistischen Teil daran, den Respekt und die Anhörung für das Leid und die Aufarbeitung, die dabei möglich ist, sein muss. Die Faszination des schlingernden Eiertanzes der Kirche aber ist grösser als das einzelne Schicksal, die Empörung kann sich mit allem scheinbar objektiven Recht auf die Hierarchien und Automatismen einer hierarchisch patriarchalen Machtorganisation einschießen. Und dabei gehen gerade die Opfer vergessen. Wir Medienkonsumenten leisten genau dazu unseren Beitrag, denn unsere Fokussierung richtet sich sehr einseitig auf die Fälle aus, die in Krichenorganisationen stattfanden. Ein gutes Indiz dieser verheerenden Tatsache sind auch Leserreaktionen, ersichtlich am Beispiel des Tagesspiegels in Deutschland, ganz sicher aber auch gültig für das zu vermutende Aufmerksamkeitspegel bei uns bei ähnlichen Gegenüberstellungen:

Mein Twitter-Eintrag von gestern ist noch immer gültig: Die Kommentare zur Rückweisung (die ich verstehen kann) des Gesprächsangebots von Bischof Mixa durch die Opfer sind mittlerweile auf 30 angewachsen, die Kommentare zum Missbrauchsvorwurf gegen den früheren Kinder- und Jugendbeauftragte Schleswig-Holsteins in zwei Kinderheimen der Arbeiterwohlfahrt stehen immer noch auf null…

Wir werden schlussendlich uns allen selbst keinen Gefallen tun, wenn wir die Diskussion über die Mechanismen, welche Missbrauch erleichtern oder begünstigen, einseitig auf die Kirche fokussieren. Egal, in welcher Institution Missbrauch geschieht: Wir alle müssen uns immer fragen, ob wir damals wie heute die Zeichen hierfür hätten erkennen können, und, schmerzhafter, auch hätten erkennen wollen. Und dann sind wir dort, wo die Diskussion sein sollte, wenn wir wirklich die Opfer, alle Opfer, ernst nehmen wollen: Bei der Mea-Culpa-Frage der ganzen Gesellschaft, bei uns. Und dann können wir auch die Frage danach stellen, wie es denn heute um unser Wissen und den Umgang mit der Sexualerziehung bestellt ist – und ob “Information” zu diesem Thema den Jugendlichen heute wirklich in den einzelnen Fällen und Einrichtungen die selbstbestimmte und entsprechend selbstbewusste autonome eigene Position und Abgrenzung leichter macht, leicht genug macht. Wo ist der Weg zwischen Verteufelung und Verniedlichung, zwischen Thematisierung und wirklicher Information?
Wir leben in einer Mediengesellschaft, welche jedes Thema überreizt. Es herrscht das Prinzip des Immermehrs, bis alle so erschöpft sind, dass sich gar nichts mehr tut und alle froh sind, wenn ein neues Hauptthema gefunden ist und sich der Fokus verschiebt. Ob die hartnäckige, nachhaltige Arbeit zu wirklichen Verbesserungen wirklich gelingt, ist völlig offen. “Immer mehr” müsste abgelöst werden durch “immer ehrlicher”. Das ist am Ende überhaupt nicht mehr so spektakulär. Aber das ist den Opfern ganz bestimmt alles andere als unrecht.

Den Papst, die Kirchenleitungen muss man deswegen genau so wenig von weiterer Kritik ausnehmen, wie man die Reflexe anderer schulischer und Heim-Einrichtungen untersuchen müsste. Und reformieren. Ich zitiere Harald Martenstein:

Wenn ich mich an meine Jugend erinnere – da ging es einerseits im Alltag oft autoritär zu, andererseits war, von heute aus gesehen, fast alles erlaubt. Heute sind wir total locker, und alles ist verboten.

Es ist eine Tatsache, auch in jeder politischen Diskussion: Sind wir nun eine total befreite, individualistisch orientierte Gesellschaft, oder droht die Überregulierung?
Wie haben wir es denn mit Regeln? So im Allgemeinen? Mich dünkt, das Verhältnis hierzu war noch selten so nachhaltig gestört wie heute. Auch das ist Teil der Debatte, meine Damen und Herren: Wir fordern alle Regeln, wollen uns aber nicht hinstellen und sie auch durchsetzen. Die Kunst der Erziehung bleibt etwas, was wir gerne fordern, aber selbst nicht leisten. Sie erfordert eine Art von Verbindlichkeit, welche die absolute Freiheit ausschliesst, sondern viel über die Grenzen dieser Freiheiten spricht. Für uns alle.