Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Wir Organe der Gesellschaft sind krank

∞  7 Januar 2013, 15:56

Noch ein Organspenderskandal: In der Uni-Klinik Leipzig sind in knapp drei Jahren 38 Patienten fälschlicherweise als Dialyse-Fälle geführt worden, um sie auf der Warteliste für eine Spenderleber nach oben rutschen zu lassen. Mit der Klage über den mangelnden Berufsethos der Ärzte lügt sich unsere Gesellschaft selbst was vor.

Unser Gesundheitssystem ist zu teuer. Sagen die Politiker. Steigen die Krankenkassenprämien, so sagen es auch die Patienten. Dann sind sie Wahlvolk, aber nicht wirklich lange und nicht aus Überzeugung. Denn im Zweifelsfall wollen wir in unserer überwiegenden Mehrzahl eine umfassende Grundversicherung für alle – und den Zugriff aller auf Spitzenmedizin. Wir leben in einer Zivilgesellschaft, die der eigenen Sterblichkeit mit einer hoch technisierten Apparatemedizin zu Leibe rückt, so dass viele Patienten den Arzt mit dem Anspruch aufsuchen, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt. Eine Medikation, eine Operation – eine Transplantation.



Und wir erleben, wie sich mit der Machbarkeit die Ethik verschiebt –




wobei der Erfolg, das erreichbare Ziel einer Behandlung oder einer anzuwendenden Technik oft nicht in viel mehr liegt als der baren Hinausschiebung des Todes. Wie dieses verlängerte Leben aussieht ist nicht Gegenstand all dieser Überlegungen. Viele Ärzte haben den Anspruch der Patienten, vom Halbgott in Weiss in jedem Fall die “Gesundheit” oder zumindest die Verhinderung des Todes zu fordern, schon deswegen nichts entgegen zu setzen, weil genau die Befriedigung dieser Ansprüche im Graubereich “sinnvoller” Massnahmen auch und vor allem ein grosses Geschäft für die Verwaltungen der Krankenhäuser ist.

Längst nicht jede Organtransplantation bringt wirklich Lebensqualität, längst nicht jeder Patient kommt psychisch mit dem fremden Organ in seinem Körper klar, oder mit den immer notwendig bleibenden Pillen, welche gegen die Abstossung geschluckt werden müssen. Längst nicht jeder Angehörige kann mit innerem Frieden den Prozess der Organentnahme bei seinen Lieben begleiten und sich wirklich dauerhaft mit dem Gedanken trösten, dass ein anderes Leben gerettet wird. Ganz sicher aber herrscht ein Drängeln und Begehren um Organe, das weit über der Bereitschaft von uns allen liegt, diese Organe auch zur Verfügung zu stellen. Entsprechend ausgeprägt ist die Suche nach Organen – und der Wunsch, bei der Vergabe bevorzugt zu werden.


Und so muss jeder auch noch mit der Last umgehen, auf Kosten anderer zu einem fremden Organ zu kommen. Mit den Skandalen in deutschen Organtranplantations-Kliniken kriegen wir genau dafür alle die Quittung präsentiert, und es wäre blauäugig, wir würden in dem Zusammenhang nur von der Skrupellosigkeit von Ärzten reden, die ihren Berufsethos verraten.




Denn diese Ärzte werden täglich bedrängt und mit genau der Erwartung konfrontiert: Mehr Organe zu liefern, als vorhanden sind – und sich bzw. das Spital dafür auch gut honorieren zu lassen. Ich kann mir die Zerrissenheit der Beteiligten als eine Art Kriegszustand vorstellen, in dem sich in der Angst um den eigenen Tod oder den Verlust des Angehörigen wegen der zu tiefen Platzierung auf der Warteliste die Selbstachtung auf den Überlebenswillen reduziert.


Wir wollen nicht sterben. Aber wenn wir nicht sterben lassen können, stirbt am Ende jede Ethik.




Natürlich müssen die Manipulationen rund um die Organvergaben aufgedeckt und sanktioniert werden. Aber wir machen uns dabei selbst den Prozess, weil wir nicht wirklich verinnerlicht haben, dass ein Leben, das so wenig sterben lassen kann, schäbig wird. Leider empfinden es zu Wenige in dieser Weise – und damit setzen wir die Ärzte mit jedem Jahr einem noch stärkeren Druck aus – und die Spitäler, die längst zu Rechenzentren geworden sind im Widerstreit mit den Krankenkassen, werden den Menschen noch mehr als Kostenfaktor (Pfleger, Patienten mit den falschen Krankheiten) bzw. als Gewinnsubstrat (teure Operation, Privatversicherung, günstige Tarifsätze weil hoher Vergütungsanspruch) sehen.

Um diesen Artikel zu schreiben, war in etwa eine gute halbe Stunde nötig. Würde ein Arzt mit einem Patienten diese halbe Stunde reden, verdiente er schlechter daran, als wenn er ihm innert fünf Minuten ein paar Medikamente verschreiben kann. Und sei es, weil er riskiert, dass die Krankenkasse die Notwendigkeit des ausführlichen Gesprächs mit dem Patienten bezweifelt… Auch so ein Thema – weiche Beeinflussungsfaktoren beeinflussen unsere Gesundheit allenfalls in Gesundheitspostillen vom Kiosk, aber nicht in Praxen oder Spitalzimmern. Dafür haben wir Anspruch, um exakt 9h37 in irgend eine Röhre geschoben zu werden.