Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Wir feiern uns ein bisschen

∞  1 August 2011, 12:41

Die Schweiz hat Geburtstag. Heute ist unser Nationalfeiertag. Am 1. August wird mir immer sehr deutlich bewusst, wie einmalig sich dieses kernige Land im Herzen Europas entwickeln durfte.


Das Gefühl der Einmaligkeit dürfen Sie sich für Ihr Land selbstverständlich auch herausnehmen. Es gilt wohl für jedes Land: Es hat eine Geschichte, die sich so wie jedes Menschenleben unvergleichlich speziell entwickelt hat.

Einmal im Jahr dürfen auch Klischees wieder belebt werden – sofern man nicht dabei stehen bleibt – oder wenn aus diesen Klischees eben wieder mehr werden darf als ein abgedroschenes Abziehbild.

Na, dann mal los: Diese Schweiz, die auf wenigen hundert Kilometern in Nord-Süd- bzw. Ost-West-Ausrichtung so viele Facetten kennt und diese auch noch in vier Landessprachen unter einen Deckel bringen muss, leistet damit einen Versuch der Verständigung, der doch immer wieder mehr recht als schlecht gelingt und deshalb ein Hinschauen wert wäre für ganz Europa. Denn ich glaube, dass ihm eine gesunde Portion Realismus zu Grunde liegt, der in Europa fehlt.

Wir haben das Glück, dass sich unser föderalistisch geprägtes, direktdemokratisch legitimierte sGebilde eines Bundesstaates über Jahrhunderte entwickeln konnte. Was uns zusammen hält, is t eine lange Geschichte – und die dazu gehörende lange Einsicht, dass wir zusammen besser können als getrennt. Mit allen Schrammen und Kopfnüssen, die dazu gehören. Wir haben das grosse Glück, dass wir unser Zusammenleben auch nicht mit Erwartungen belasten, die nicht zu erfüllen sind. Wir wollen unter einander nicht gleicher sein, als wir sind, im Gegenteil: Innerhalb unserer Grenzen glauben wir, individueller, spezieller und eigenständiger bleiben zu können als ausserhalb. Weil wir im Miteinander selbst bestimmen können, was wir von einander verlangen wollen, und was verschieden sein und bleiben darf. Darum ist unsere als Abschottung wahrgenommene Igelhaltung nicht das Ende, sondern der Anfang unseres Gemeinschaftsbeitrags:

Wir glauben nicht an ein vereintes Europa. Der Wunsch, es zu bilden, der Versuch, es zusammen zu halten, die Angst vor Krieg, die Erinnerung von Leid und Blutvergiessen reicht dafür nicht aus. Man kann nichts dauerhaft zusammen schweissen, was zuvor nicht zu sauberen Kanten geschliffen wurde, ohne dass man in der Schweissnaht bereits die mögliche spätere Bruchstelle anlegt. Die Länder Europas haben ein gemeinsames Projekt, aber sie sind nicht die Gemeinschaft, welche sie werden wollen. Dass sie es werden wollen, ist dabei nicht nichts wert, aber es braucht dazu viele gute Erfahrungen eines Miteinanders – und für die muss man sich Zeit lassen.

Es gibt in unserem Empfinden, wie jenes gallische Dorf zu sein,das sich von römischen Legionen umzinhgelt sieht, eine Bunkermentalität von Betonköpfen, welche ihre Energie beim Bau von Zäunen aufbrauchen. Es gibt aber auch jene Schweizer, die sich durchaus als Teil eines offenen Europas sehen, die sich mit ihrer Identität als Schweizer und Europäer in die nötigen Diskurse um die Zukunft unseres Kontinents täglich einbringen wollen – und die auch im Inland gehört werden. Nicht zuletzt hat sich das in vielen direktdemokratischen Volksabstimmungen zu den bilateralen Verträgen mit Europa gezeigt. Wir sind, liebe Nachbarn, vielleicht in Vielem ein etwas schrulliges Völkchen, aber wir haben mehr zu bieten als einen guten Geschäftssinn – und wir sind nicht so überheblich, zu meinen, wir würden Europa nicht brauchen oder etwa nicht dazu gehören.

Als Land mit 26 Kantonen und fast so vielen Mentalitäten haben wir nur gelernt, dass es verflixt schwierig ist, in dieser Vielfalt genügend einig werden zu können – und diese Vielfalt dabei nicht abzuwürgen. Europa, so wie es gedacht war, erscheint uns als der gigantische Versuch, genau dies zu tun und durchzuzwängen, für die Utopie einer Harmonie, welche nur das eine Problem kennen lernen wird: Wie soll es einem bei dem ständig schönen Wetter nicht langweilig werden.

Wir haben eine ganze Menge gravierender Probleme. Europa hat sie. Und damit haben wir sie auch. Es gibt viel zu tun. Packen wir es an. Als Schweizer, Deutsche, Franzosen, Österreicher, Italiener… mit allen Erfahrungen und jeder Weisheit, die greifbar ist und sich konstruktiv einbringen will. Wir können auf keinen Krümel davon verzichten, um zu jenem Realismus zu finden, nach dem wir wirklich zusammen leben können.