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Wie real sind virtuelle Kontakte?

∞  31 August 2008, 13:46

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Man kann nur von Dingen schreiben, die man aus eigener Anschauung kennt oder über die man sich Wissen erarbeitet hat. Darum enthält der Artikel vor allem Betrachtungen über das gute alte Mail, aber nicht nur: Verbindend ist in allen Formen virtueller Präsenz, dass wir mit uns selbst in jeder Selbstdarstellung nie wirklich aussen vor bleiben, sondern nur eine Facette von uns real werden lassen…



[ Berliner Morgenpost ]



Für die Beantwortung der Frage möchte ich von jener Kontaktform ausgehen, die wohl alle Leser hier kennen: Dem E-Mail.

Zum Glück müssten wir hier für die Klärung der Frage nicht unbedingt auf das Ach und Weh von Stildozenten Rücksicht nehmen, die beklagen, dass beim Mailen Grammatik nicht mehr so wichtig und Stilistik reiner Luxus wäre. Trotzdem erwähne ich es. Denn die persönliche Erfahrung zeigt etwas anderes:
Die nicht so starken Anforderungen an die Form sind zwar eine Tatsache. Ich behaupte aber, dass sie eher befreiend wirken denn zerstörend. Die Tatsache, Fehler machen zu dürfen, mit Sprache nicht brillieren zu müssen, erleichtern den Zugang, bauen die Scheu vor dem geschriebenen und damit gesetzten Wort ab. Hat man sich die Art der Kommunikation erschlossen, wird der passende Ausdruck, das richtig gesetzte Wort genau dann wieder wichtig, wenn es uns bedeutsam erscheint, dass wir richtig verstanden werden, dass genau mein Adressat mich richtig versteht.

Können Sie sich noch an Brieffreundschaften erinnern in Ihrer Jugend? Das Foto des Mädchens in den USA, ich habe es noch verschwommen vor mir. Es hat nicht hingehauen. Es entstand keine Dynamik zwischen uns. Die Post hatte etwas Sinnliches, aber sie war langsam. Noch langsamer machte es die eigene Trägheit…

Ein Mail aber kann flockig kurz daher kommen oder ganz lang sein, aus der Tiefe der freien Zeit und der vollkommenen Ruhe geboren werden. Es kommt immer gleich schnell an und unterliegt nicht so sehr der Gefahr, an der Form allein zu scheitern. Was “man macht” und “nicht macht”, ist zwar auch bei Mails ein Thema, aber ein nicht wirklich Entscheidendes. Gerade nicht bei privaten Mails. Haben Sie auch Kontakte, die nur über Mails laufen? Viele haben sie. Immer mehr haben welche. Was unterscheidet Kontakte per Mail von realen Begegnungen? Sind erstere in jedem Fall blutleer, unverbindlich, unpersönlich, ohne wirkliche emotionale Verbundenheit?

Es gibt keinen Augenkontakt, kein Gespräch der Gesichtszüge, der Regungen, der Gestik, schon gar keine Berührung. Aber kein Kontakt ist antiseptisch, sobald ein Austausch stattfindet, ein Teilen. Wenn man sich schreibt, dann muss man sich mitteilen, man ist gezwungen, Gefühle und Gedanken in Worte zu fassen. Und wissen Sie was? Ich glaube, es ist überhaupt nicht entscheidend, wie gut Sie das können. Ob Sie glauben, dass Sie dazu ein Talent haben. Viel wichtiger scheint mir, gerade in einem Mailkontakt, die Art Ihres hinein Hörens in sich selbst zu sein. Dafür erhellend ist die Frage, was Sie denn genau machen, wenn Sie umgekehrt ein Mail bekommen und es lesen? Sie lesen nie nur die Worte, die da stehen. Sie lesen zwischen den Zeilen. Immer. Und so ist die Tatsache, dass Sie ausser Worten nichts haben, aus dem Sie Stimmung, Motivation und Gefühl des Absenders heraus lesen können, Problem und Chance zugleich:

Das Mail bietet gegenüber einem Telefongespräch oder einer Begegnung stets die Chance der grösseren Distanz. Nie fällt es leichter, vor einer Antwort durchzuschnaufen, erst auf die Gedanken zu hören, wirklich zu denken, bevor wir etwas “sagen”. Die Art, wie wir das tun, bleibt zudem verborgen. Die Stille vor der Antwort ist nicht deutbar. Ist nicht Teil davon. Ja, ich weiss, das zeigt noch mal explizit, wie eingeschränkt das Mail doch ist.
Aber es bietet auch riesige Chancen. Die wenigsten Menschen sind über den Herdentrieb hinaus Menschen, die ständig an ihren Ellbogen den Nachbarn spüren wollen. Wir möchten Privatsphäre, allein sein können, Zeit für uns haben, nicht vereinnahmt werden. Kommunizieren per Mail macht das viel einfacher. Und die Konzentration auf das Schreiben ist eine schöne Form der Hinwendung zum Adressaten. Sieh her. Ich befasse mich hier und jetzt mit Dir allein.

Ich habe über Mails Menschen kennen gelernt, Kontakte aufgenommen und gepflegt, über viele Jahre. Manchmal gab es Pausen. Lange Pausen. Sie gehörten wie selbstverständlich dazu. Viel selbstverständlicher, als wenn man sich telefoniert hätte und sich der eine plötzlich nicht mehr melden würde. Mails sind ein Angebot. Sie können eine offene Hand sein, in die ich die meine legen kann oder auch nicht. Ohne den anderen direkt zu brüskieren. Und oft denke ich:
Wäre der Kontakt erst nicht über Mails entstanden, hätte ich ihn auch gepflegt? Aufgenommen, angenommen, gewollt? Augen und Ohren hätten Vorurteile, Urteile getroffen, die ein Einlassen verhindert hätten. Mit allen unseren Sinnen nehmen wir wahr. Aber wir selektieren auch laufend. Unbewusst. Per Mail aber kann mein Freund zwölf sein oder Fünfundachtzig. Es macht nicht unbedingt einen Unterschied – oder der Unterschied ist genau das Reizvolle daran.

Und: Es gibt den ultimativen Beweis, wie real virtuelle Kontakte sein können. Wie sie sich auch entwickeln, verfeinern, vertiefen, ganz automatisch, oder vielmehr aus dem beiderseitigen Antrieb, dem, was Beide investieren: Sorgfalt, Zeit, den Willen, zu erzählen, sich immer wieder zu erklären. Nachzufragen. Verstehen zu wollen. Zu vertrauen. Geschriebene Worte haben eine grosse Wirkung. Ich glaube nicht, dass regelmässige private Mailschreiber ihr Deutsch vor die Hunde gehen sehen. Ich glaube das Gegenteil. Wir alle haben nämlich vor dem (unserem) geschriebenen Wort einen grossen Respekt: Man kann es immer wieder lesen. Es ist ein Dokument. Also fordert es Sorgfalt, und für den Menschen, zu dem man eine Emotionalität entwickelt, erbringen wir diese gerne.

Wenn sich dann Menschen, die sich lange Zeit nur geschrieben haben, tatsächlich begegnen, ist vieles vertraut und alles doch ganz neu. Man ist auf vieles vorbereitet, aber nie auf alles. Vielleicht werden die Vorstellungen erfüllt, die Erwartungen übertroffen, eventuell passiert das Gegenteil. Immer aber wird man sich in die Augen sehen können und sich zu danken haben für alles, was man über den anderen schon weiss und das es einem nicht leicht macht, sichtbar werdende Marotten negativ zu sanktionieren. Die Selektion hat auf anderer Ebene schon stattgefunden. Was man erarbeitete an Übereinstimmung, wird nicht so leicht wertlos. Ist das was man sieht und hört wertvoller als das, was man schon vom anderen erfahren hat? Nein. Es bestimmt höchstens die Art des Kontaktes, den man haben möchte.
Je mehr man von sich selbst eingebracht hat, je authentischer man war, um so wertvoller wird bleiben, was man von einander erfahren hat. Je wichtiger ein Mailkontakt wird, um so realer wird er: Die Selbstdarstellung wird mühsam, unnötig. Wer sich ohne Treffen, oder nach einem Zusammenkommen, wieder nur schreiben kann, wird immer grösseren Wert darauf legen, authentisch zu sein. Ehrlich. Man wünscht sich den Freund an die virtuelle Seite, und die ist sehr wohl real.

Diese Betrachtungen sind zutiefst subjektiv. Und ich denke dabei an Kontakte, die ich über viele Jahre gepflegt habe, bis es zu realen Begegnungen kam. Oder an reale Kontakte, die virtuell real blieben, weil ich Ferienbekanntschaften per Mail weiter pflegen wollte. Wer Worte versendet, Gedanken schenkt, Gefühle investiert, braucht dafür eine Form der Kommunikation. Wie er diese nützt, welche Wärme er damit verbindet, entscheidet er aber allein.

Wenn wir nur bedauern, was per Mail nicht möglich ist, können wir entscheiden, lieber nichts zu investieren. Wenn wir aber uns freuen, dass wenigstens Mails möglich sind, werden wir vielleicht erleben, dass mit die tiefsten Freundschaften gerade dadurch tragfähig sind. Und dazu gehört immer ein besonderes Bewusstsein:
Trotz der unverbindlichen Form haben zwei Menschen Kontakt gehalten. Sie müssen sich nicht mehr beweisen, dass sie einander wichtig sind. Die Monate und Jahre stehen dafür und sind ein verbindender Stolz, Dankbarkeit und Demut vor dem Glück, verstanden zu werden.

In Mails eine virtuelle Person zu bleiben, ist also auf Dauer schwierig und kaum möglich, auch nicht besonders sexy, würde ich meinen. Die Gegenwart wird immer schneller und damit kürzer. Also benützen wir Messenger und Chat. Hier werden wir ans Medium gebunden, müssen sofort antworten, sind live dabei und doch versteckt. Wir können Grimassen schneiden, während wir von Zuneigung säuseln. Es fehlt die Zeit für Reflexion. Wir können als Mann oder Frau X geheimnisvoll fremd bleiben oder Rollen spielen, ja, wir können aus einem Impuls heraus intuitiv in eine Person schlüpfen, die wir glauben, gerne sein zu wollen. Doch was dabei heraus kommt, ist immer – zumindest – ein Gefühl. Und damit fatal real. Für uns. Leider oft auch für andere.
Wir können nicht verhindern, dass wir uns selbst bei all unserem Tun immer zusehen. Deshalb ist all unsere Tätigkeit, ob im Netz oder in der “realen” Gesellschaft, nie virtuell. Es ist immer ein Teil von uns selbst. Und damit müssen wir ganz real umgehen. Und das kann sehr abenteuerlich werden.

Selbstverantwortlich damit umzugehen, bedeutet, dass unsere reale Welt eine sehr weite, netzumspannende Dimension bekommt und so mannigfaltig wird, dass wir noch so gerne teilen und von anderen lernen. Für ganz reale Glücksgefühle. Und für ein Eindringen und tiefer Ruhen in uns selbst.


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