Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Wie nur befragt man sein Volk zu Europa?

∞  11 August 2012, 13:01

In Deutschland mehren sich die Politiker-Stimmen, welche zur Europa-Frage eine Volksabstimmung verlangen. Doch wie das angegangen werden soll, darüber wird (noch) viel zu wenig diskutiert.

istockphoto.com/koun

Entscheidungen über Eurobonds, Rettungsschirme und Abtretungen von Kompetenzen für eine übergeordnete Bankenaufsicht bzw. eine EU-weite Finanz- und Währungspolitik können alle Teil einer solchen Abstimmung sein – was aber ein JA zu mehr Europa beinhalten soll, darüber gehen die Meinungen bestimmt sehr weit auseinander. Und welche Arten von Sanktionen für verfehlte Ziele einzelner Staaten soll es denn tatsächlich geben?

Wie pauschal könnte eine solche Volksbefragung formuliert werden, so dass die Bürger tatsächlich wissen können, was sie damit freigeben – bzw. verhindern?

Und wie gross könnte die Versuchung plötzlich werden, eine solche Volksabstimmung rasch durchzuführen, weil man damit beweisen will, dass man den Unmut der Bürger ernst nimmt tatsächlich fürchtet?

Wenn eine Volksabstimmung zu einer solch grundlegenden Frage offen bejaht wird, begeben sich alle zusammen auf den Bolzplatz, auf dem ein neues Spiel geübt werden muss: Die offene Diskussion einer Sachfrage mit unzähligen Verknüpfungen und scheinbar offenen Varianten, in der die Politiker die Aufgabe erst annehmen müssen, dem Volk die finale Entscheidung zu überlassen, wird offen legen, wie weit der Weg zu mehr direkter Demokratie tatsächlich ist. Und weite Wege brauchen Zeit. Wird man sie sich nehmen?

Das Unbehagen bei den Politikern ist gut zu spüren. Das kann den Bürger ärgern, aber es ist auch zu verstehen, denn bisher verstanden sich Parlamentarier als dazu gewählt, für den Bürger zu entscheiden, und nicht, ihm Entscheidungen nahe zu legen – sie ihm aber zu überlassen und damit auf die Wirkung der eigenen Argumente vertrauen zu müssen.

Wie die Meisterung der Finanzkrise selbst ist auch das Projekt Volksabstimmung ein Experiment mit Turbo-Booster, das einen Beklemmung erzeugenden Mangel aufweist: Es fehlt die Zeit, Erfahrungen zu machen. Schweizer Formen der direkten Demokratie sind über Jahrzehnte, Jahrhunderte gewachsen, bezieht man die das Fundament legende Geschichte mit ein. Was nun Europa versuchen muss, ist ohne dieses Fundament Kraft durch Einigkeit zu generieren. Allerdings sollte man auch in den Republiken Europas die Klarsicht der Bürger nicht unterschätzen. Ob sie dümmer sind als die Politiker, kurzsichtig egoistisch denken, ist nicht gesagt.

Ein Beispiel: Deutsche Kollegen staunten über den Volksentscheid der Schweizer, eine zusätzliche Ferienwoche für alle abzulehnen. Einhelliger Tenor: “Das wäre bei uns nicht möglich gewesen.”

Freunde, ich glaube nicht, dass das stimmt, stimmen muss. Denn diese Reaktion beinhaltet eine fehlende Erfahrung: Dass nämlich im offenen politischen Diskurs VOR der Abstimmung die Gefahren eines vermeintlichen individuellen Vorteils diskutiert und offen dargelegt werden, so dass man als Mitglied einer Bürgergemeinschaft sehr wohl zum Schluss kommen kann, dass es einen Verzicht zum Wohl der Gesamtwirtschaft braucht: Der wirkliche Gewinn dieses Weges liegt in seiner vermeintlichen Bschwerlichkeit. Dazu gehören, leider, auch alle düsteren Prognosen, denn eines liegt jeder Abstimmung zugrunde: Wirklich definitiv weiss niemand, ob ein Ja oder Nein besser ist für ein Land. Aber man findet gemeinsam zu einer Entscheidung und trägt dadurch auch viel eher die Konsequenzen auf dem dann eingeschlagenen Weg. Spätestens ab diesem Zeitpunkt gehört dann die politische Kultur dazu, die Minderheit mit im Boot zu behalten und sich bewusst zu sein, dass man bei nächster Gelegenheit selbst zu dieser gehören kann.

Ich bin sehr gespannt, welche Formen der Diskussion und Entscheidungsfindung sich herausbilden werden. Und wie unterschiedlich sich das in den einzelnen Staaten entwickelt.


____
Zum Thema: FAZ.net – Rufe nach Volksabstimmung über Europa werden lauter