Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


WIE ich was sage...

∞  30 Oktober 2009, 18:35

M. ist untröstlich. Also fast. Ihn hat ein Bus überfahren. So kommt er sich manchmal zumindest vor, sagt er. M. hat geerbt. Das ist schon eine ganze Weile her. Die Krux an der Geschichte ist, dass er damit nicht allein ist. Damit meine ich nicht Sie, die Sie vielleicht auch schon mal Erbe waren. Heute erben viele Leute irgendwann mal was. Ein Merkmal einer sozialen Wohlstandsgesellschaft, gewissermassen.
Nein, M. ist anders mit dieser Erfahrung vereint. Er hat Miterben. Und damit die Bescherung. Dabei ist man sich jetzt offensichtlich einig, dass “das Ding” jetzt verkauft werden soll. Also, fast alle sind sich einig.

“Vor ein paar Wochen,” erzählt M., “da haben wir uns am Telefon fast angeschrien, und sei es nur, um eine Form der inneren Enttäuschung zu kaschieren. Ich bin beleidigt worden, wohl nicht zuletzt, weil er sich beleidigt gefühlt hat. Schliesslich hörte ich, wie mir quasi der verwandtschaftliche Status “hiermit” entzogen werde – und ich fragte mich fast gleichzeitig, was das eigentlich für eine Anmassung sei, die jemanden in die Überzeugung versetze, er hätte so was zu vergeben wie einen Titel?”

Ich verstehe, was er meint: Ein Freund, der mir die Freundschaft aufkündigt, erklärt mir, dass er mir etwas nicht mehr zubilligen mag, was er mir bisher schenkte, in einem besonderen Ausmass. Vertrauen, Zuneigung, Zeit, Energie.

Verwandte? Wie viele haben wir davon, die uns schlicht zugemutet werden?
Im Gegenteil: Traurig ist ja, dass Verwandtschaften, ist man sich gerade grün, scheinbar viel mehr aushalten müssen als Freundschaften. Was interpretieren wir nicht alles hinein in unsere familiären Rollen? Wie ein Freund beschaffen sein sollte, das wissen wir selbst. Wie ein Onkel, eine Tante, ein Taufpate, ein Cousin zu sein hat, das bekommen wir oft ungefragt gesagt, aufgetragen, vorgeleiert.

Nun sind die Wochen also verstrichen. Ane M’s neuem Status als Nichtverwandter, an der Überzeugung seines Blutsverwandten, dass das Tischtuch zerschnitten ist, an dem er mit ihm allerdings auch über die Jahrzehnte nicht oft gesessen ist, hat sich nichts geändert und wird sich nichts ändern. Aber M. klingt heute anders:
Die Wochen sind vergangen, die Meinungsverschiedenheiten konnten sich setzen, die gesprochenen Worte sind zwar nicht zurück zu nehmen, aber ganz offensichtlich haben beide in Gedanken noch ein paar Mal gelauscht, und dabei auch den Nachhall der eigenen Worte nochmals vernommen. Oder erstmals, besser gesagt. Eine gewisse Sachlichkeit ist eingekehrt, und man wird wieder von Buben zu Männern. Und macht die entscheidenden Schritte vorwärts.

Und nun ist M. geneigt, seinem Ex-Verwandten Recht zu geben: Es hat was für sich. Ist man nicht (mehr) verwandt, kann man es kaum erwarten, auch entsprechend zu leben. Also soll dieses verd… Erben nun endlich ein Ende haben und der Verkauf statt finden.


PS:
Um Geld mag es oft auch gehen. Aber: An allen Erbgegenständen in Erbengemeinschaften kleben so viele Geschichten, wovon die weiter gesponnenen sich längst über die ursprünglichen gelegt haben und aus der Erzählung zu Herkunft, Erwerb und Unterhalt eine Sage und dann womöglich ein Mythos wurde.
M. wird also erben. Es wird ein Teilen sein. Womöglich von Tischtüchern, aber nicht nur.

Und DIE Erfahrung ist jenseits aller kochenden Sippensuppen gültig: Der Ton macht die Musik, und so lange man den Respekt bewahrt, vermag man nicht nur klarer zu denken, sondern auch besser zu fühlen, wo der eigene Nasenspitz aufhört.


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