Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


West und Ost - und auf beiden Seiten Neugier!

∞  1 Oktober 2010, 16:36

Ich bin mit dem Bewusstsein, dass mitten durch Europa eine Mauer führt, gross geworden. Die Teilung Deutschlands war in ihrer Art für mich das politische Absurdum schlechthin, mit weithin sichtbaren Zeichen und Beispielen. Todesstreifen, Mauerschützen, Flüchtlingsgeschichten, linke Idealvorstellungen einer sozialen Gesellschaft, ideologische Grabenkämpfe, kalter Krieg, vor allem aber: Menschliche Schicksale, Seelennot gegen Apparatschik-Handeln. Und es ist nicht so, dass wir im Westen NICHTS mit bekommen hätten von “drüben”. Aber natürlich war es viel zu wenig.

Zwanzig Jahre Deutsche Einheit. Für mich ist der Mauerfall noch immer eine unfassbare Sensation. Die vorhandenen, zementierten Strukturen schienen mir für die Ewigkeit gemacht, und aufgrund der gleichen Muttersprache habe ich mit jedem deutschen Schicksal mitgelitten, von dem ich gelesen oder gehört habe. Junge Deutsche im Westen schienen mir oft die entschlossensten Europäer zu sein, auch wenn am Ursprung dieser Motivation schlicht der brennende Wunsch stand, bei einer neuen, bewusst antinationalen Idee mitwirken zu können, mit einer Chance auf eine unverdächtige neue Identität.

Zwanzig Jahre nach dem, was ein unglaublicher Aufbruch schien, ist wenig geblieben. Ostdeutsche Befindlichkeiten spielen keine Rolle. Man würde wohl am liebsten glauben, es gäbe sie gar nicht (mehr). Als Nachbar schaue ich mit grossem Erstaunen nach Norden und frage mich: Wo bleibt, mit der Distanz von zwanzig Jahren, die Neugier, zu erfahren, wie es war, im Osten? Und wer sie sind, die Ostdeutschen? Ich sehe kaum Wege, ja noch nicht mal Versuche, die Tatsache der unterschiedlichen Befindlichkeiten offen anzusprechen – und sie nicht der ökonomischen Walze zu überlassen. Auf dass sie schwinden mögen oder stille werden. Ich glaube, dass viele Ostdeutsche einen tiefen Frust in sich tragen und tatsächlich ein Identitätsproblem haben. Ohne Konfession, mit einer Staatskunde, die sich erledigt hat, mit einem angelesenen Demokratieverständnis, bleibt kaum eine andere Kompetenz als jene des Bauches, der attestieren muss, dass er mit besseren Dingen gefüllt werden kann als “damals”. Der Konsument also sagt, es ist gut, wie es gekommen ist. Und der Mensch? Ist es nicht bedenklich, wenn sich noch immer Menschen nach alten Zeiten zurücksehnen? Und wenn man es nicht dramatisieren mag – warum thematisiert man es nicht? Die Gegenwart scheint keine Zeit für Geschichte zu haben – und damit keine Zeit für Verstehen, Begreifen, Fragen und Kombinieren. Und schon gar nicht für Ansätze, welche auch einen Spiegel vorsehen könnten, in dem der Westen sich nicht gerne sehen mag.

Als Bürger eines Landes mit vier Sprachkulturen, mit einer wechselhaften und borstigen Geschichte, in der es immer um die mögliche Identität von Minderheiten ging, rate ich allen deutschen Freunden immer wieder, sich für einander zu interessieren. Es geht nicht um Folklore. Aber die Neugier, die einen fragen lässt: Wie war denn deine Kindheit? wäre dennoch ein sehr toller und segensreicher Anfang.