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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Wenn es aus der falschen Ecke tönt...

∞  12 September 2010, 18:25

Thilo Sarrazin und die Debatte um den Einfluss der muslimischen Einwanderung aus das Bildungsniveau und -gefälle in Deutschland läuft also. Tut sie das wirklich? Oder ist es am Ende so, dass sich viele Rädchen drehen, aber eher im Leerlauf? Meiner Meinung nach ist die Debatte nämlich noch gar nicht wirklich angelaufen. Wobei “Debattieren” das treffende Wort ist. Von “Diskutieren” kann wohl erst recht nicht geschrieben werden. Das grösste Problem zeigt sich dabei in den Medien im gleichen Phänomen, das in der Schweiz die öffentliche Diskussion um das Minarettverbot bestimmt hat: Eine vorauseilende Abgrenzung verhindert die wirkliche Einlassung auf Inhalte.

Sehr schön zeigte sich das zu Beginn. Wohl keine Zeitung, die sich nicht bemüssigt sah, vorgängig dem Leser zu erklären, warum man in der öffentlichen “Diskussion” eines Buches eines vermuteten Rechtsaussen einen publizistischen Auftrag sehe, der auch dann nötig sei, wenn man damit, natürlich gänzlich ungewollt, für ein übles Machwerk auch noch Reklame machen würde. Vordergründig versuchte man so klar zu machen, dass man den Auftrag, gesellschaftspolitische Thesen kritisch zu hinterfragen und zu beleuchten, ernst nehme. In der förmlichen Entschuldigung, warum das auch in diesem Fall so sein solle, machen die Medien aber vor allem eines klar: Dass ihnen nichts so wichtig ist wie die Distanzierung von einer Strömung, für die man Sarrazin stehen sieht. Die vorauseilende Ortung wird dem Leser mit dem eigenen Standesdünkel der Weltoffenheit mitgegeben, bevor man sich auf das Buch eingelassen hat – und vor allem, bevor sich der Leser darauf eingelassen hat. Damit riskieren die Medien vor allem eines: Dass sie jene Leser gleich zu Beginn verlieren, welche in ihrem Grundgefühl Sarrazins Motivation nicht gänzlich negativ gegenüberstehen. Das sind im übrigen auch nicht einfach die dummen und hoffnungslos verlorenen Leser, sondern auch all jene, die sich durchaus ein eigenes Urteil zutrauen und sich dieses auch selbst bilden möchten. Mit Hilfe der journalistischen Zunft – aber einer, welche die Grundlagen für Urteile liefert – und diese nicht vorneweg nimmt.

In den einzelnen Debatten ist immer wieder das gleiche Phänomen zu beobachten: Sarrazin bemüht Statitstiken und Expertenurteile, versucht mit diesen Schlussfolgerungen, die man teilen kann oder missbilligen. Sie aber einfach zu negieren und die Kälte zu verdammen, die man in diesen Aussagen vermutet, ist keine Diskussion. Denn der Einzelfall, der einzelne Bildungsauftrag beim einzelnen Kind, die Aufgabe von Staat und Eltern für diese eine Person ist die individuelle Problemstellung – die Geisselung oder Herausarbeitung einer Tendenz mit statistischem Material ist deswegen aber nicht falsch.

Sarrazin weist auf Gefahren in der Bevölkerungsentwicklung hin, die viele Bürger selbst auch sehen. Mit humanistischen Grundhaltungen und entsprechender Empörung allein kann hier nicht Gegensteuer gegeben werden. Vielmehr wäre es notwendig, sich tatsächlich aufrütteln zu lassen – von mir aus sehr wohl im Bemühen, Sarrazin NICHT Recht geben zu müssen. Dazu aber würde gehören, sich politisch so zu engagieren, dass der konkrete Bildungsauftrag an jedem Schüler tatsächlich erfüllt wird – und damit der dazu gehörende Integrationswillen der Eltern – zum Wohle der Kinder – auch eingefordert würde. Und zwar verbindlich. Dies ist aber in viel zu vielen Sitationen und an vielen Orten nicht der Fall, und die Frontkämpfer in der Schule werden in der täglichen Mühle sehr allein gelassen, während die begleitenden staatlichen Ämter oft einen sehr ungenügenden Zugang zu den inneren Zirkeln der Migranten haben und die Forderung nach gleicher Bildung für alle auch nicht durchsetzen mögen – weil eben die dazu gehörende Bereitschaft zum unpopulären Nachdruck und damit zur Konfrontation oft fehlt. Toleranz verkommt viel zu oft zu fehlender Verbindlichkeit, zu fehlender Standfestigkeit, und führt damit zu Ungleichheiten.

Die Bürger, darunter auch viele aufgeschlossene Angehörige muslimischer Volksgruppen, wünschen sich sehr wohl die Durchsetzung einer einheitlich freiheitlichen Gesellschaftsordnung, in der sich ethnische Brauchtümer den Regeln des Wohnlandes anzupassen haben. Dass dies in einigen Volksgruppen wenig bis überhaupt nicht gelingt, ist eine Tatsache, die man auf der Grundlage dieser Debatte in eine echte Diskussion führen sollte. Es ist kleinlich, sich dem zu verschliessen, nur weil der Impuls dazu von einer Person und aus einer Richtung kommt, der man schlicht keinen Einfluss zugestehen will. Schon gar nicht auf das eigene Denken.

Vielleicht aber ist es ja durchaus humanistisch, eine Einwanderungspolitik zu betreiben, die sich an den Realitäten und den tatsächlichen Gefühlen der Menschen orientiert und die damit dazu beiträgt, dass jene, die einwandern, auch tatsächlich gute Bedingungen antreffen, um sich integrieren zu können. Jede Gesellschaft hat ihre Ressourcen. Die sind auch intellektueller Art. Was aber davon auf den Boden gebracht wird, entscheidet sich in der Realpolitik. Und damit auch mit der Frage, wie weit sich (integrierte) Einwanderer selbst in dieser Politik und in vermittelnden Positionen zu engagieren bereit sind – mit der klaren Wertung, dass das Bildungssystem des Gastlandes das Bildungssystem für alle Gruppen sein muss. Wohl kein anderes solches System auf der Welt enthält so viele Usanzen, welche tatsächlich Toleranz enthalten, wie hier bei uns. Entsprechend gross düfen die Anforderungen an diese Gruppen sein, egal welcher Ethnie, sich tatsächlich auf das Land einzulassen, in dem sie wohnen.

Wenn z.B. gesagt wird, immerhin 50% der Teilnehmer an Sprachkursen für Erwachsene Migranten in Deutschland würden freiwillig teilnehmen, so ist das für mich kein Erfolg (schon gar nicht wenn ich an die Chancen derer Kinder denke…). Es bedeutet nämlich, dass jeder zweite Teilnehmer vor dem Deutschlehrer widerwillig zuhört.
Meiner Meinung nach ist das eine Katastrophe. Genau so, wie es nicht richtig ist, dass diese Kurse gleichzeitig überbucht sind, weil es viel mehr solche Angebote geben müsste.
Dass man dabei früher oder später zum Ergebnis kommen kann, dass jene, die man zwingen muss, vielleicht eh am falschen Platz sind, ist doch kein Wunder. Wir sind, wie immer, alle gefragt: Der Staat, also wir, müssen die Ausbildung und Schulung anbieten – die Adressaten müssen sie annehmen. Es ist – für beide Seiten – schlicht das Mindeste. Daraus erst, aber dann wirklich, kann folgen, dass man statistischen und tendenziellen gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung trägt und Gegensteuer gibt. Auch mit Einwanderungsbeschränkungen, wenn sie denn auf dieser Grundlage auch begründbar sind.

Und dies ganz egal, wessen Finger auf welchen Missstand hingewiesen hat.