Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Weniger Bla-Bla zwischen Journis und Bloggern

∞  11 November 2008, 11:11

Offener Brief an den Chefredaktor der Sonntagszeitung
(und epischer Erguss für alle, denen Qualitätsjournalimus nicht egal ist):

Sehr geehrter Herr Durisch

Sie haben mit David Bauer einen Redaktor Multimedia gewonnen, der das Internet zweifellos kennt. Oder zumindest das Phänomen der Weblogs, über die er sich nun zweimal in der Sonntagszeitung geäussert hat.

Auf die Reaktionen, die der Artikel provoziert hat, will ich hier gar nicht mehr eingehen. Sie sind logisch, und die Vermutung liegt nahe, dass sie von Autor und Blattmachern auch beabsichtigt sind. Und genau das ist das wirklich Problematische an dieser Art Schreibe und Publizistik:

Sie ist tendenziös. Weil sie bewusst völlig unzutreffende Annahmen voran stellt, ich möchte sagen, unterstellt: Blogger wollen nicht die Welt verändern. Sie wollen ihre Meinung sagen. Und zwar durchaus zum Mainstream der Themen. Eben zu allem, was Menschen auch an einem Stammtisch in der Beiz beschäftigen würde. Und sie entdecken dazu mit Blogs neue Möglichkeiten im Internet. Was daraus wird oder werden mag, das haben sich 2005 vor allem Beobachter gefragt, die das Phänomen zwingend schon früh einordnen oder aber auf keinen Fall die Berichterstattung über einen neuen Trend verpassen wollten. Während sich also die schreibende Zunft den Kopf darüber zerbricht, was Blogs für eine Bedeutung haben und wie sie damit umgehen sollen, bloggen wir einfach weiter. Aus blosser Lust am kommentieren, lamentieren, diskutieren, debattieren. Und wir geniessen es, ehrlich gesagt, dass wir dabei laut sagen können, dass ein bestimmter Artikel Schrott ist. Dass das auch vernommen und gelesen werden kann, auch ohne dass Sie die Gnade haben, unsere Meinung als Leserbrief zu veröffentlichen. Das mag für so manches Medium lästig sein, aber mit Verlaub: Das nennt man Demokratie. Und das Phänomen, dass sich online Menschen kurz schliessen, Nachrichten aufnehmen, verlinken und so weiter verbreiten, hat gerade eine amerikanische Präsidentenwahl mit entschieden. Womit wir beim Punkt ankommen, der für uns alle bedeutsam wird, wenn auch, zugegebenermassen mit unterschiedlich spürbarem Druck:

Während es für uns private Blogger nur darum geht, ob wir unser Hobby mit etwas mehr oder weniger Aufmerksamkeit ausüben können, geht es für die Presse um deren Existenz. Die Artikel über die Bloggerszene bekommen ein ganz besonderes Gschmäckle, wenn man sie auf dem Hintergrund des Drucks traditioneller journalistischer Medien betrachtet. Ihnen fliessen die Werbegelder ab. Und dies, ohne dass sie auch nur annähernd in gleichem Umfang im Netz neu generiert werden könnten. Das bedeutet zwingend geringere Lohnsummen – oder Visionen für neue Publikationsformen und eine Art Journalismus, die glaubwürdig bleiben kann, auch wenn dafür bezahlt werden muss – und das soll es ja auch. Wir brauchen Medien als vierte Macht im Staat, und damit Journalisten, die so viel Rückendeckung und finanzielle Power im Rücken haben, dass sie Zeit und Mittel zur Recherche haben. Blogger haben diese Mittel nicht, und es ist daher nur gesund, dass sie auch keinen entsprechenden Ehrgeiz entwickeln.

Es ist an der Zeit, dass der Journalismus anerkennt, dass Blogger vor allem eines sind: Einigermassen kritische Konsumenten und vor allem Leser – und damit Kunden. Und es wäre wohl recht intelligent, wenn Redaktoren daher dazu fänden, sie auch als solche ernst zu nehmen. Dass das nicht so ist, stinkt uns nämlich ziemlich, und wäre es anders, so fiele es uns deutlich leichter, Gelassenheit zu bewahren bei Angriffen aus Zeitungsspalten. So bashig wie diese aber daher kommen, führt das aber fast zwangsläufig dazu, dass ihnen mit saftiger Polemik begegnet wird. Sachlichkeit auf beiden Seiten würde hingegen helfen, dass sich die Lager angleichen bzw. wirklich zusammen darüber nachgedacht wird, wie insbesondere berichtete und kommentierte Tagesaktualität online zukünftig aussehen könnte.

Blogger dürfen dann allerdings umgekehrt auch erwarten, dass eine redaktionelle Prüfung und Einbindung dazu führt, dass Zeitungsartikel mehr sind als eine persönlich motivierte Provokation.

An diesem Punkt erlaube ich mir daher weiterführend ein paar Fragen und Thesen zu Zustand und möglicher Entwicklung von Online-Journalismus und Blogs:

• Blogs werden auch abseits jedes Hypes Bestand haben und dank der Tatsache, dass sie kinderleicht zu eröffnen sind, dauerhaft jedem Bürger jederzeit das Potential zur freien öffentlichen Meinungsäusserung offerieren (Journalisten ausdrücklich eingeschlossen). Sie stellen dadurch ein basisdemokratisches Instrument dar und durchbrechen damit den in professionellen Redaktionsstuben gewachsenen Anspruch auf die Deutungshoheit aller Aktualität.

• Daraus folgt, dass jedes Blog in einem Einzelfall das Potential besitzt, durchaus Wirkung nach aussen zu erzielen, in einer Art Mikropublizistik also sogar durchaus Meinungsführerschaft zu übernehmen bzw. einen Wissensvorsprung zu nutzen und diesen einzubringen.

• Einige Blogger werden ihr Blog auch zukünftig als echtes Qualitätsblog weiter entwickeln und von einem kleinen oder grösseren, wahrscheinlich aber stets überschaubaren Kreis von Lesern auch so wahr genommen werden, zu einem engen oder beliebig weiten Themenkreis. Sie werden Hobbyisten und dabei echte Blogger bleiben und sich in der Wahl ihrer Themen entsprechend frei fühlen und ihre Stärke gerade daraus beziehen, dass sie keine redaktionellen Zwänge kennen.

• Dass Blogger gerne schreiben, liegt auf der Hand. Dass es einen Traum darstellt, davon auch leben zu können, ist mehr als verständlich. Wird solches versucht, so findet die Orientierung auf die Leser in einer Form statt, die praktisch immer auch Anpassungen im Format nach sich zieht. Das Blog wird zum Magazin, Originalität wird zwingend, Individualisten brauchen plötzlich Koordination, Teams, Gleichgesinnte. Von Bloggerseite ist dies die Schnittstelle, wo sie sich den Zwängen und Bedürfnissen der Journalisten angleichen.

• Diese Journalisten kommen aus einer ganz anderen Welt. Vom idealen Selbstverständnis her sind sie Informationsträger, Reporter und Meinungsbildner, die unter redaktionellen Richtlinien die Voraussetzungen zu demokratischen Entscheidungen und zu einer Kontrolle der demokratischen Institutionen schaffen. Das Blatt, die Medien, für die sie arbeiten, stehen für eine gewisse Geisteshaltung, helfen dadurch mit, eine gewisse Legitimation zu schaffen. Innerhalb dieser Institution gibt es die Chance, seine Arbeit in einer Art geschützten Werkstatt zu tun und persönliches Profil zu gewinnen. Diese “innere Freiheit” wäre tatsächlich ein wichtiges Gut, um dem Auftrag, dieser Grundidee von Journalismus auch nachleben zu können. Wie weit für diese Prämissen schon heute die Vergangenheitsform gewählt werden müsste, kann ich als Blogger nicht beurteilen.

• Alle Medien aber haben ein Problem: Der Nachrichtenstrom wird immer breiter und er fliesst immer schneller. Gleichzeitig muss der Bericht darüber privat finanziert werden, was auch in Printmedien hauptsächlich durch Werbung geschehen muss, die aus jener Industrie kommt, die Leser als Konsumenten versteht. Gleichzeitig sterben Verleger aus, die sich als Hüter der Publizistik verstehen. Früher gab es Mannen wie Nannen, heute kennt man Herren wie Kall. Wenn Verlagsführung aber nur noch Unternehmensführung ist, muss ein schnelles Geschäft genau so schnell finanziert werden. Dies lässt keine Visionen zu und führt zu Gratiszeitungen und Gratisinformationen, die sich aber ausdünnen und mit den Werbeinhalten, die sie finanzieren, verschmelzen.

• Was also ist zu tun? Vor allem dann, wenn wir noch beobachten, dass die neuen digitalen Formen der News-Portale in sich in keinem Fall profitabel arbeiten, weil die Werbung die richtige Ansprache der lesenden Internet-User noch nicht raus hat. Animierte, bewegte Werbung, neben oder gar in einen Artikeltext gezwängt, nervt einfach nur. Fehlende Transparenz dagegen schafft wiederum ein Glaubwürdigkeitsproblem.

• Was also ist zu tun? Das Konzept habe ich auch nicht. Aber ich sehe die Fehler, die wir machen:


• In dieser Situation treffen nun in ihrer traditionellen Existenz bedrohte Journalisten auf Blogger. Unterschiedlicher könnten die Voraussetzungen nicht sein.


• Blogger sind Leser. Fortschrittliche und meist leidenschaftliche News-Konsumenten. Sie könnten so mancher Idee auf die Sprünge helfen. Statt sich über ernsthaftere Versuche von Bloggern, professioneller zu werden, zu mokieren, wenn sie wegen fehlender Ressourcen in der Eigen-Publikation scheitern, oder Hobbyblogs wegen Banalität zu bashen, sollten sich die Online-Redaktionen darum kümmern, wie sie die Virtuosität des Web2.0 mit dem verknüpfen können, das ihren eigenen Brand ausmachen soll.
Es darf gewettet werden, welches Online-Projekt als erstes den direkten Austausch mit Bloggern sucht und einfach mal fragt:




• Vielleicht schafft man ja auf diesem Weg in den Online-Portalen der Printmedien ganz so nebenbei noch einen ersten Stilwechsel: Der bestünde darin, endlich online Quellen sauber zu verlinken – und damit auch das Risiko zu wagen, dass Leser zur Konkurrenz geführt werden.
Gerade Blogger könnten diesen Medien dann versichern, wie unglaublich kompetent das wirkt, kundenfreundlich ist und mehr Bindung zu den Lesern schafft: Leser kommen nämlich an den Ursprung der guten Links zurück. Garantiert. Artikel, die zumindest am Ende interessante Links bieten, stellen damit einen weiteren Mehrwert dar.
Über die Kommentarfunktion habe ich schon gesprochen. Einen kritischen Artikel über Blogs online zu stellen und keine Kommentargelegenheit anzubieten, disqualifiziert sich schon selbst.
• Aber wie gesagt, das sind einzelne Kritikpunkte. Der grosse Wurf – er darf durchaus aus einem Medienhaus kommen. Nicht nur ich warte darauf. Aber ich werde dazu auch weiter, eben, bloggen.

°
Links zur aktuellen Diskussion:


  1. David Bauer, Sonntagszeitung: Bla-bla-Blogger – Die Rebellen versinken im Mittelmass

  2. Mark Balsiger, Wahlkampfblog: Bla-Bla-Blogger und David Bauer oder vom Esel, der den anderen Langohr schimpft

  3. Christian Schenkel in dialogische-kommunikation.ch: Die Sonntagszeitung über Bla-Bla-Blogger
  4. Blogging Tom: Bla-Bla-Blogger in der Sonntagszeitung

  5. Bugsierer, henusode-blog: Bla-bla-Bauer: Master in Journalism versinkt im Volltrash
  6. Bruder Bernhard, La Triperie: Jung, biegsam, verknöchert

  7. und auch: Wie ein Meisterjournalist recherchiert
  8. David Bauer, Sonntagszeitung: Blog-Blabla: Verbaldresche für Kritiker

  9. Christian Schenkel, e-demokratie.ch: David Bauers Kreuzzug gegen Schweizer Blogger

  10. pixelfreund.ch: Warum Blogger-Bashing populär aber nicht mehr zeitgemäss ist

  11. Bruder Bernhard, La Triperie: Blogs üben Diktatur aus, klagt David Bauer

  12. Bugsierer, henusode-blog: sonntagszeitungbauer-replik#2

  13. Patrick Hediger in tou.ch: Auch Bundesblogger Leuenberger ärgert sich über Sonntags-Zeitung

  14. metablog.ch: Retourkutschen-Journalismus in der Sonntagszeitung

  15. amade.ch: Krieg zwischen Blog und Print?

  16. Zappadong: Die Diktatorin

  17. die kreide: Bauer in freier Gesellschaft

  18. haze.ch: Algebra für Journalisten

  19. Reto Müller: Blogger bloggen. Würden Sie es besser lassen?

  20. und in der beiz2.0: Bla-Bla-Journalisten vs. Blogger und viele andere neuere Artikel. ganz aktuell: Ich bashe, du bashst, er basht – und ändern tut sich nichts

  21. update 12.11.08:

  22. Leu vergleicht Flugblätter und Zeitungen

  23. leu´s Themenvorschläge für die Sonntagszeitung