Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Was soll bei uns wachsen? Und wie nur...?

∞  20 April 2011, 19:30

Wohlstand ohne Wachstum. Gesundung durch weniger Wohlstand? Wie muss uns der Wandel in der Energiepolitik und in der (un-)freien Marktwirtschaft schmackhaft gemacht werden?


In der Heinrich Böll Stiftung in Berlin hielt im April ein gewisser Tim Jackson einen Vortrag. Die ehemalige Leaderfigur der britischen Labour-Partei in Nachhaltigkeitsfragen hat ein Buch geschrieben, das seinen Titel wie ein Versprechen trägt:

Wohlstand ohne Wachstum*)

Und die Menschen, darunter viele Junge, haben den Vortragssaal gestürmt. Das Thema wird nachgefragt, beschäftigt uns alle, und gerne, sehr gerne, würde man Heilsversprechen vernehmen und auf einem Pfad nachfolgen, der ein gutes Gewissen verspricht, möglichst so clever beschritten, dass das ohne Schrammen abgeht. Wie wachsen, ohne die Umwelt zu belasten? Es ist die Schlüsselfrage. Und sie wird mittlerweile politisch diskutiert. In den Wahlkämpfen wird sie ausgeschlachtet, bei den Wählern wächst derweil die Not:
Problem erkannt, Lösung unsichtbar. Wer sich Gehör verschaffen will, verspricht, ob Buchautor oder Politiker, die Quadratur des Kreises. Die Botschaft lautet immer: Der Wandel ist machbar. Und es entstehen neue Synergien, neue Forschungsfelder, neue Chancen, neue Produktionsschwerpunkte.

Allem aber bleibt gemein: Wir sind für unsere Umwelt eine Belastung. Wir orten in den anderen, den Fremden, den Zugereisten, den Verbrauchern, den Autofahrern das Problem. Während wir für diese Menschen selbst zu den anderen und also auch zum Problem gehören. Logisch.
Wir alle machen schon mal ein bisschen mit uns selbst aus, wo wir was einsparen könnten – und warten dann mal ab, “ob das nötig sein wird”. Wie damit Politiker mutige Programme vertreten und dabei auf uns zählen sollen, ist mir schleierhaft.

Dabei denke ich, wissen wir es alle: Weniger Wohlstand, ausgewogenere Verteilung, ein Markt, der nach übergeordneten neuen Kriterien neu geordnet und gelenkt werden muss – das alles wäre, eigentlich, ein Muss. Die Probleme der Ungleichgewichte in allen ökonomischen und natürlichen Systemen sind dringlich. Wachstum ist kein ideeller Wert, kein Gesetz, aber sehr wohl eine Definitionsfrage. In unserem materiellen Wachstum sind andere Aspekte eines abgefederten, sozial verträglichen Lebens verkümmert. Wir sind eine Gesellschaft der Marktteilnehmer geworden. Wir waren keine Gemeinschaft der Bürger mehr. Wir sind allenfalls Interessengruppe, kennen aber immer weniger Lebensgemeinschaften. Wir sind verselbständigt in einer Welt, die alles braucht, nur nicht die Orientierung, die wir auf uns allein ausgerichtet bereit sind, vorzunehmen.

Das alte Ägypten, das Römische Reich, die Inkas, die Mayas. Bei vielen dieser ganze Epochen bestimmenden Hochkulturen wissen wir heute noch nicht so genau, wie sie zerfallen sein mögen. Wir sollten uns darüber Gedanken machen. Vielleicht ist es ein Irrglaube, dem Mechanismus der sich ständig potenzierenden Macht der Stärkeren Einhalt gebieten zu können. Der Versuch muss dennoch gemacht werden, es sei denn, man geht davon aus, selbst zu diesen Stärkeren weiterhin zu gehören – und sich durch die Zeiten zu retten – mit welchem Selbstbild auch immer.

Die Idee der Globalisierung wird in sich zusammenfallen, die EU den Belastungen der Währungsunion und den Folgen gebrochener Spielregeln wahrscheinlich nicht standhalten. Dem allgemeinen Unbehagen, das in solchen Einschätzungen liegt, steht der erwachende Bürgerwille zur aktiven Meinungsäusserung, das Verlangen nach Mitbestimmung entgegen. Das bedeutet nicht, dass zukünftig weniger Fehler gemacht werden. Aber es könnte heissen, dass jedem Versuch, mehr Gleichgewicht zu schaffen, die Legitimation mit gegeben wird, demokratisch legitimiert danach zu suchen. Dass das erst mal nur im Kleinen funktionieren mag, spricht nicht dagegen. Weiss Gott nicht. Jede Bewegung, jede politische Kraft entsteht immer aus der Kraft Einzelner, welche für eine Überzeugung Schrammen riskieren, die ein Cleverle glaubt, vermeiden zu können. Das Internet bietet nicht nur Tunesiern und Ägyptern die Chance der Vernetzung. Auch bei uns kann sie folgen tätigen – über Fangruppen für Karl Theodor zu Guttenberg hinaus, hoffentlich.
Darum: Machen wir uns ruhig unbeliebt und sagen wir unsere Meinung. Auch im Kollegenkreis, in der kleinen Gruppe. Warnung: Manchmal fällt man nur schon dadurch auf, dass man eine unbequeme Frage stellt…

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*) Tim Jachkson: Wohlstand ohne Wachstum.
Oekom-Verlag, Münschen 2011.
272 Seiten, € 22.95