Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Was ist Europa ohne Markt?

∞  24 März 2011, 14:13

Europa bleibt eine Utopie. Und die EU ist ein Wirtschaftsverband geblieben – aber mit welchem Leitstern?


In diesen Tagen frage ich mich wieder vermehrt: Was ist das eigentlich, die EU? Abgesehen von einem politisch zusammengezimmerten Konglomerat von in ihrer Mentalität komplett verschiedenen Völkern zu einer heterogenen Gemeinschaft mit der Idee eines gemeinsamen Marktes? Ich sage nicht, dass die Tatsache, dass wir in Europa seit 65 Jahren keine überregionalen Kriege mehr hatten, nichts wäre. Aber die EU betet das Mantra, das sich die gesamte westliche Welt zu eigen gemacht hat: Schaffe Markt, und die Menschen werden friedlicher, weil mehr Geld verdient werden kann.

Die EU ist also Tatsache, als politisch verbandelte Zweck-Ökonomie-Gesellschaft. Ein Europa ist das nicht. Es gelingt ja noch nicht einmal, eine einheitliche Wechselkurspolitik zu betreiben. Faktisch ist der Euro die einzige Währung ohne entsprechende Lenkungsinstrumente. Im Notfall hebeln die Schwergewichte Deutschland und Frankreich am System – und sie sind umgekehrt auch jene, welche diesen besagten Markt bestimmen; sorry: gestalten.

Wenn es Notszenarien für Griechenland braucht und Deutschland klagt, was das die Deutschen kostet, so geht es dabei um die Abfederung der enormen Risiken, die deutsche Banken in Griechenland eingegangen sind. Und wenn Sarkozy und Merkel auf Irlands niedrige Körperschaftssteuern schimpfen und erpresserisch vom tief verschuldeten Irland für weitere Hilfe die Anhebung dieser Steuern verlangen, dann geht vergessen, dass es innereuropäische grosse Holdinggesellschaften sind, welche genau aus diesem Grund Sitze in Irland begründet haben – und Sarkozy muss sich vorrechnen lassen, dass Körperschaften, misst man alle realen Abgaben, in Frankreich noch weniger Steuern zahlen als in Irland.

Der gleiche Sarkozy scharwenzelte in Paris vor einigen Monaten um den Herrn Gadhafi herum wie ein Rumpelstilzchen, und zog eine Ölspur hinter sich her, während er jetzt so tut, als sässe er in jedem Geschwader höchstpersönlich im ersten französischen Jet, der libysche Stellungen angreift. Seine Fregattenkapitänin Merkel samt Adlatus Westerwelle über derwei die ganz feine Zurückhaltung in jenem Sicherheitsrat, in den Deutschland zuvor unbedingt einziehen wollte, weil da die ganz wichtigen Entscheidungen getroffen werden. Mahlzeit.

Als Bürger des Kleinstaats Schweiz bin ich ein EU-Skeptiker geblieben – obwohl ich eigentlich keinen Weg sehe, auf Dauer fern zu bleiben – die faktischen Zwänge werden immer stärker (es sei denn, das Konglomerat zerbricht zuvor an seiner inneren Instabilität).

Was mich aber, gerade auch angesichts der eben geschilderten Episoden, enorm stört, ist das innere Verständnis für gemeinschaftliche Positionen. Diese sind, mit Verlaub, Makulatur. Die Faktische Macht der Schwergewichte wird kaschiert durch die scheinbar notwendige Einstimmigkeit in den allerwichtigsten Entscheidungen – was aber im Einzelfall zu eher mehr denn weniger Repression hinter den Kulissen führen dürfte. Unter dem Strich bin ich überzeugt, dass die überbordende Ausweitung der europäischen Gemeinschaft zu weniger statt zu mehr Demokratie geführt hat.

So gab es von Seiten der EU auch niemals einen Versuch, für ein Grund“problem” einer Schweizer Mitgliedschaft kreative Lösungen oder Kompromisse zu finden – die Tatsache nämlich, dass die Schweiz eine funktionierende direkte Demokratie ist – und bleiben will. Es ist gänzlich illusorisch, zu meinen, wir würden auf die in Jahrhunderten tradierten und verfeinerten politischen Meinungsbildungsprozesse verzichten. Dem Risiko, sich der Meinung des Souveräns immer wieder zu stellen, begegnet man in “Europa” mit hohem Befremden, während der Schweizer Souverän so nebenbei schon mehrmals ein Ja zu bilateralen Verträgen ausgesprochen hat – zu kritischen Bereichen wie dem Schengen-Abkommen oder der Personenfreizügigkeit. Wir sind – neben Irland – das Land, in dem sich die Regierung in ihrer Europa-Politik am tatsächlichen Willen des Volkes immer wieder neu orientieren kann – und muss.

Regieren mit uns, oder erst recht in unser Namen, ist mühsam, ich weiss. Wir sind uns immer die eine blöde Frage gewohnt: Warum?
Aber genau so funktioniert Demokratie. Und wehe den Politikern, die ihr Volk der Dummheit verdächtigen. Das Volk lebt immer länger.