Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Vor dem Fenster wär's smart

∞  12 März 2013, 18:27

Das Zeichen ist weniger als das, was es bezeichnet. Das Wort nur ein Versuch, einen Teil der eigenen Wahrnehmung anderen mitzuteilen, mehr geeignet, Gedanken weiter zu geben als Empfindungen. Und doch lebten wir noch nie so sehr in erster Linie in Buchstaben.

istockphoto.com/assalve: “Appenzeller Bahnen”

Wir sollten mal zwei Szenen hinter einander vorgeführt bekommen, die den gleichen Vorgang vor fünfzehn Jahren zeigen und heute: Menschen betreten einen Zug und setzen sich ins Abteil. Der Zug nimmt langsam und träge Fahrt auf.

Es wäre frappant, zu beobachten, wie unterschiedlich das Verhalten der Passagiere ist, wie offensichtlich verändert: Wer setzt sich heute noch hin, richtet sich auf seinem Sitzplatz ein und schaut dann aus dem Fenster?

Zwanzig Passagiere, achtzehn Hände, die nach dem Smartphone nesteln und achtzehn Köpfe, die sich über kleine Screens beugen und sich in ihr Leben scrollen.

Derweil, der Zug fährt an, läuft vor dem Fenster ein Film ab, der niemanden zu interessieren scheint. Man sollte sich mal diese Herausforderung vorstellen:

Eine 20-Minuten-Fahrt von A nach B, die gleiche Stecke, die man doch schon so gut kennt. Wir greifen nicht nach dem Handy. Das haben wir doch schon auf dem Bahnsteig getan. Wir lassen es stecken und schauen aus dem Fenster, der Landschaft nach oder entgegen, die an uns vorbei streicht. Wir sehen immer wieder Menschen, stellen uns Geschichten vor, sehen sie gehen, arbeiten, schwatzen, wohnen, wie in einem farbigen Stummfilm bahnt sich der Zug seinen Weg durch tausende Leben. So viel, was selbst Ungeübte sehen können – aber unmöglich verarbeiten. Eine kurze Bahnfahrt reicht, um uns so viel reales Erleben zu vermitteln, wie wir auf unseren Screens in einem ganzen Tag nicht erlebt bekommen. Und vor allem:

Das Leben im Smartphone schwurbelt sich in Aufregungen hoch, die so künstlich sind, dass sie in sich zusammen fallen, kaum lässt man das Gerät sinken. Es vorbei streichen zu lassen, ist nicht so dramatisch wie der verpasste Ausblick aus dem Fenster. Dabei könnten wir einfach mal nichts tun und schauen. Betrachten. Gedanken ziehen lassen und willkommen heissen. Uns selbst nachhängen statt der Nachricht, die womöglich so wenig von uns handelt oder nicht wirklich nach uns fragt.

Leben findet statt. Vor dem Fenster. Auch vor dem Screen? Vielleicht wäre ja schon etwas gewonnen, wenn wir ein Bewusstsein für den Müll entwickeln könnten, den wir täglich absondern und den irgend eine arme Socke auch noch lesen muss. Dass die Socke das womöglich nicht so empfindet, ist ein Segen. Bis er oder sie oder ich entdecken: Ich lebe mein Leben nicht, und das, was war oder hätte sein können, ist endgültig verloren.