Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Von der Ethik, aber wie?

∞  25 Oktober 2009, 20:47

Vorsicht: Eine kleine Polemik. Aber keine Sorge: Sie ist mit guten Absichten verfasst worden… [-Th]


Am Freitag höre ich bei Backes einem erfahrenen und scheinbar erfolgreichen Manager zu, der die Frage danach, was für ihn ethisches Verhalten wäre, sinngemäss etwa so beantwortet:
Ethisches Verhalten müsste in seiner Situation durchaus auch Einsatz finanzieller Eigenmittel für die Gemeinschaft bedeuten, gestand er einer Mutter mit sieben Kindern und Hartz IV zu – aber doch bitteschön in einer Form, die man selber bestimmen möge, womit man dann mit seinem Manager-Knowhow auch dafür sorgen könne, dass das Geld gut eingesetzt werde.

Ich gebe gerne zu, dass ich, ohne es wirklich zu wissen, postwendend angenommen habe, dass für den Einsatz dieser geistigen Ressourcen für humanitäre Eigenprojekte bei einem geschätzten 70-Stunden-Pensum als Manager und einer Familie, die bestimmt auch hier “mit das wichtigste im Leben ist”, nicht so viel Zeit übrig bleiben kann…

Ansonsten wurde dieses Manager-Knowhow an diesem Abend vor allem dafür eingesetzt, dem Staat zu raten, wie er denn Hartz IV mildern und die Bildung mehren könnte, natürlich ohne neue Steuern, aber mit Wachstum. Dass der Staat für dieses Wachstum gerade eben für eine Abwrackprämie 5 Mia Euro locker gemacht hat, während der Bildungsetat für ganz Deutschland auf Bundesebene 6 Mia Euro beträgt, wurde immerhin auch noch erwähnt…


Die Gesellschaft steht immer stärker im Clinch mit dem Staat, statt dass sie diesen als Instrument und Diener an der Gesellschaft versteht und sich auch dafür verantwortlich glaubt.



Fabienne Suter erzählt im Sportpanorama des Schweizer Fernsehens von ihrer langen Leidensgeschichte auf dem Weg zurück zum Spitzensport: Nach einem Schienbeinkopf-Trümmerbruch und schlechtesten ärztlichen Prognosen kämpft sie sich in vier Jahren zurück in den Ski-Weltcup und ist heute 3-fache Siegerin eines Weltcup-Rennens und total neunmal aufs Podest gefahren. Sie erzählt von ihrer Heimatgemeinde Sattel, und von der Unterstützung im Dorf für sie, vom Gemeinschaftssinn, von den Sportvereinen und einer Gemeinde, die allen Kindern des Dorfes das Jahresabo für die Skilifte schenkt. Sattel ist vielleicht kein Hotspot für Touristen – aber ganz offensichtlich ein Skiort mit Herz und funktionierenden sozial-gemeinschaftlichen Strukturen.

Die Schweizer Eishockey-Nationalspieler besuchen ein Kinderspital – und dort junge Menschen, Kinder, die wohl nie auf Eis rumkurven werden und ganz andere Sorgen haben, als sie diese jungen Männer kennen. Sie kommen, um eine Freude zu machen, und werden selbst beschenkt.

Wir leben in einer Welt, in der wir sehr schnell der Meinung sind, dass andere “mit unserem Geld” ganz bestimmt nicht gut umgehen können. Wir schauen für uns, und wenn das alle tun, ist für alle gesorgt. Wir meinen, wenn wir uns verbal für gute Rahmenbedingungen für alle einsetzen, dann wäre das Optimum getan. Dieses Optimum aber ist ein Mäntelchen, das wir über das System eines immer stärker verankerten Egoismus legen. Die Gesellschaft steht immer mehr im Clinch mit dem Staat, statt dass sie diesen als Instrument und Diener an der Gesellschaft versteht und sich auch dafür verantwortlich glaubt. “Der Staat” ist heute ein anonymes, fremdes Konstrukt, ein Hybrid, ganz bestimmt aufgebauscht und leerläufig, während bei uns privat doch alles klasse funktioniert.
Wenn wir gutes Geld verdienen in unserem Job und jemand einwirft, wir hätten auch Glück dabei gehabt, “wie alles gekommen ist”, so ist uns zwar zuzutrauen, dass wir das auch sehen können, aber wir werden gleich einwenden, dass man dieses Glück auch erst am Schopf packen müsse. In der Tat kann man Glück nicht hinterfragen, noch erklären, und es zu verweigern, verlangt auch niemand. Aber wir sollten vieleicht versuchen, uns mit diesem Glück mehr zu fragen, wie wir denn dazu gekommen sind und wie wir es mehren können – durch teilen.
Und mich stört, dass wir dabei mit dem Staat am allerwenigsten rechnen. Dabei mag dieser Staat noch so träge sein, Verwaltungsfehler und Bürokratie offenkundig werden – er bleibt das Bindeglied zwischen uns Allen und vor allem die einzige Organisation, über die es möglich ist, eine Verbesserung für ganze Bevölerkungsgruppen wirklich zu erreichen. Dass die “Staatsquote” in unserem Lohnausweis auf der Steuerseite viel zu hoch sei, hören wir ständig. Aber wie viel von unserem Geld verdienen wir vielleicht dank jenen Rahmenbedingungen, die tatsächlich (noch) gut sind? Wenn sie jetzt höhnisch werden wollen, dann gehen Sie mal Ihren morgigen Tag durch und beantworten sich selbst die Frage:
Wie oft nehme ich heute Leistungen in Anspruch, die mir schlussendlich der Staat garantiert oder ermöglicht? Wie sähe dieser oder jener Programmpunkt aus, lebte ich nicht in der Schweiz oder in Deutschland, sondern … und hier dürfen sie es sich aussuchen. Und wenn Sie dann partout einen Ort einsetzen, an dem es Ihrer Meinung nach bessere Möglichkeiten gibt, dann sollten Sie sich auch bewusst sein, dass Sie damit eine Eigenqualifikation abgeben: Das hier, bei uns, ist Ihr und mein Staat. Er ist so gut oder so schlecht, weil wir alle dafür das tun, was wir tun. Oder eben nicht. Und wenn Sie dann sagen, dass wir als Einzelne nichts tun können, dann erwarten Sie bitte von keinem einfachen Arbeiter mehr, dass er morgen zum Schuften kommt. Hätte der Ihre Sichtweise, würde er sich der Arbeit verweigern und dem zuwenden, was Viele ohne wirkliche Kenntnisse der Situation schon herbei reden: Sozialschmarotzertum.
Dabei hätten wir das ein Stück weit fast verdient, mit unserer saublöden, arroganten und besserwisserischen Individualitätssülzerei, mit der wir im Grunde nur unsere Eigenverantwortung verweigern: Wir reden uns aus dem System heraus.


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Links:
Nachtcafé, Wieland Backes vom 23. Oktober 2009
Sportpanorama des Schweizer Fernsehens vom 25.10.09 mit Fabienne Suter und der Schweizer Eishockey-Nationalmannschaft im Kinderspital