Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Vom Wert der Verbindlichkeit und Autoritäten

∞  9 Juli 2010, 20:28

Die Diskussion zum Beitrag vom 1. Juli, Ein Vorschlag für ein Drei-Punkte-Leitsystem hat viele zusätzliche Anregungen geliefert. Dabei haben sich die Kommentierenden daran gerieben, dass der Uhrenmanager Jean-Claude Biver für seine einfachen klaren Grundsätze in der Erziehung die Befehlsform verwendete, indem er die Forderung nach Teilen, Respektieren und Verzeihen jeweils mit “du musst” einleitete.

Ich will hier nicht @Uwes Formulierung in den Boden stampfen, erwähne sie aber deshalb, weil sie den Grundtenor des Unbehagens so schön wiedergibt:

Eine Forderung, im Gegensatz zu einer Bitte, halte ich aber für gewalttätig und für das Gegenteil von Liebe. Eine Forderung ist ja mit einer Sanktion verbunden, für den Fall, daß sie nicht erfüllt wird. Wer fordert und denkt: “Das ist es, was ich mir von Dir wünsche oder was ich Dir empfehle aber wenn Du es nicht tust, dann ist es auch o.k. und wird seine Gründe haben”, der fordert nicht, der bittet eigentlich. Wer das, was er fordert mit einem Druck belegt, der ist irgendwie gewalttätig und bewirkt leicht das Gegenteil dessen, was er eigentlich möchte.


Ich glaube, dass die ganze dazu gehörende Diskussion sehr schön ein Dilemma in unserem gesellschaftlichen Umfeld zeigt:
Während im Geschäftsleben der Zug längst in die andere Richtung abgefahren ist und sich jedermann dem Diktat der fordernden Leistungsgesellschaft vorbehaltlos ausgeliefert hat, haben wir für den persönlichen Umgang mit einander – und für die innere eigene Wertsuche die grössten Schwierigkeiten mit Äusserungen, die unmissverständlich eine Richtung angeben und – eben – damit auch fordernd klingen, ja mehr als das, auch so gemeint sind.

Du willst ein Leben lernen, in dem Du mit Dir im Reinen sein kannst und mit Deiner Umwelt in Frieden leben kannst? Dafür musst Du ein paar Regeln beherzigen.
Natürlich lebt er [der Vater] es auch vor. Aber alle Eltern wissen, dass das nicht ausreicht. Man muss ein bestimmtes Verhalten auch einfordern. Das Kind im Sandkasten will die Förmchen nicht abgeben, der ältere Bruder beansprucht das Fahrrad zuerst, etc. etc. Wir greifen ständig ein – und es schert uns, vorgängig, nicht immer wirklich, ob das Kind es versteht? Wir handeln, urteilen, entscheiden, und erklären dann. Aber es ist sehr wohl möglich, von einem Kind gewisse Verhaltensweisen zu verlangen, z.B. beim Essen, bevor es diese im Detail versteht. Der Respekt vor Nahrungsmitteln kann sich auch durch die eingeforderte Praxis eines Verhaltens einstellen.
Liegt in dieser Art Forderung nun also Gewalttätigkeit? Ja, vielleicht. Man kann es so sehen.
Wenn Sie das allerdings tun, dann erschreckt mich das auch. Denn es bedeutet, dass es grundsätzlich keine Autorität gibt. Es bedeutet auch, dass wir insbesondere auch uns selbst nicht zutrauen, mit dem eigenen Beispiel eine Voraussetzung zu schaffen, welche das Kind folgen lässt, auch ohne sofortiges Verstehen. Vor allem aber drückt es aus, dass die Autorität, die dieser Nachfolge die Erklärung mit gibt, das liebevolle Führen, die Leitplanken, welche Orientierung schenken – und die Stütze, die einen aufstehen lässt, wenn man gefallen ist, eine Fiktion geworden zu sein scheint. Und DAS ist eine Form neuer Armut in unserem Verständnis.

Es ist auch eine Unmöglichkeit. Anders ist es nicht zu erklären, dass gerade jene “Führer”, welche Heil durch blossen Gänsemarsch in den eigenen Fussstapfen versprechen, Hauptsache, es tönt kuschelig, Zulauf haben.

Wir verklären jede Form von Kontemplation und verkürzen unsere Wahrnehmung von spirituellem Leben auf das Bild eines zur Ruhe kommenden Menschen, der seinen Geist im klösterlichen Wochenendretreat etwa so entstresst, wie am Wochenende zuvor den Körper im Spa-Tempel in Grosshintergottmadingen.

Ich gebe hier noch ein Bild zur inneren Betrachtung: Die meisten von Ihnen werden schon einmal von der Tradition und Lebensweise der thailändischen Bettelmönche gehört haben. Das sind die kahlhäuptigen Mönche in den gelben Gewändern, die mit ihren runden Essenschalen durch die Dörfer und Städte laufen und bis Mittag sammeln, was sie diesen Tag zu essen kriegen. Der Rest des Tages scheint der inneren Einkehr gewidmet zu werden und nichts als Kontemplation zu sein. Gerade aus diesen Lebensformen aber entstehen – Regeln! Der thailändische Bettelmönch versucht etwas mehr als 220 davon zu beherzigen.
Die Regeln des heiligen Benediktus sind ähnlich zahlreich. Und ich bin sicher, dass der Bruder in der Zelle nebenan zu deren Einhaltung aufgefordert wird – auch wenn er sie nicht versteht. Und es ist nicht gesagt, dass die Autorität irrt, die das so durchsetzt.

Ja, wir können alle viele Beispiele des Unheils anführen, das blinder Gehorsam für falsche Autoritäten angerichtet haben mag. Wir alle haben aber auch ein Gefühl dafür, wie segensreich erinnerte Leitplanken in einer geradlinigen Erziehung gesesen sind – oder hätten sein können. Hoffentlich. Denn wennn ich komplett antiautoritär aufgewachsene Menschen von ihrer Kindheit erzählen höre, so ist das für mich eine Form von Kindesmisshandlung.

Schlussendlich geht es um eines:
Sie finden die Lebensweise eines Vorbildes oder einer Geisteshaltung lebenswert? Wenn sie sich dafür entscheiden, werden sie dabei auf Autoritäten stossen, die ihnen beibringen, dass eine gelebte Verbindlichkeit ein Schlüssel ist, um den inneren Geheimnissen der Lebensweise – und sich selbst – auf die Spur zu kommen. Kein noch so gütiger Lehrer wird es dulden wollen, dass Sie ihre Zeit und ihre Talente vergeuden. Wie der Nachdruck dabei aussehen mag, ist wohl offen und die individuelle Kunst der Ansprache. Und damit auch ein Teil der Autorität. Und die wird nach der Sprache suchen, die Sie verstehen.