Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Vom Spieler zum Zuschauer - eine Art Zeitfluss

∞  27 Mai 2010, 13:19

Wir waren im Saft. Ausbildung beendet. Zusatzausbildung auch. Frau gefunden. Kinder gezeugt. Beruf aufgegleist, Karriere begonnen, Fahrt aufgenommen. Haus gebaut? Wir sind eingerichtet. Stellung in Beruf und Gesellschaft sind erreicht, wir stehen im Spiel und spielen es mit. Zeit ist kostbar, sie fliesst, aber wir fühlen uns als Herr unserer Sinne und wie Fussballer, welche die Regeln kennen und den Ball beherrschen. Wir haben unsere Rolle und füllen Sie aus. Damit die Zeit fliesst und nicht zu rennen beginnt – das kommt später – organisieren wir uns. Das heisst, unser Privatleben. In ihm wollen wir kompensieren, was wir dem Beruf schulden. Wir organisieren unsere Zeit und werden doch eingesponnen in die Tage. Wir machen Fahrpläne, um die Kinder von A nach B zu bringen, neben der Arbeit einkaufen zu können oder das lange Wochenende zu gestalten – an dem dann “was laufen soll”. Wenn es nicht klappt, dann verschieben wir es, denn wir sind ja im Saft.

Wir machen laufend einseitige Verträge mit unserem Leben und fordern ungefragt Gegenleistungen ein – statt uns zu fragen, für wen oder was wir das leisten, was wir tun. Und irgendwann rennt die Zeit. Sie fliesst nicht mehr, und wir lassen abreissen. Die Spitzengruppe entschwindet. Wir stehen daneben. Jetzt kommen die ungefragten Bilanzen. Die sind auch nicht frisiert, noch nicht mal geschminkt. Und weil wir keine anderen Bewertungsmassstäbe kennen, als die gelernten – wer kann schon sein Leben abstreifen oder neu beurteilen ohne Not – malen wir die Zahlen rot an. Das Minus steht. Was nun?

Wir alle machen Abstriche. Wir entfremden. Vielleicht kommen wir dabei dem Leben näher – aber unsere Vorstellungen erweisen sich dabei oft als überführte Phantastereien. Und das, was uns zu Siegern machte, taugt nur beschränkt für die Rückschau. “Ich war” – das ist und bleibt bitter. Was ich bin, aber, das nehme ich mit mir mit. Was bleibt bei mir, wenn ich neben der Zeit stehe?

Von was kann ich mich nicht entfremden? Was entscheidet, ob ich mir ein Fremder bleibe oder werde oder ob ich ein Freund meiner Gedanken werden kann? Wie bringe ich es fertig, alles, was ich denke und sehe auf die flache Hand zu legen – jederzeit dazu bereit, es gehen zu lassen? Was bringt mich dazu, jenseits aller Rechnungen und Bewertungen, ob ich oder Sie etwas verdienen oder nicht, zu leben und dabei die Tür offen zu halten, so dass jederzeit jedermann vorbei schauen kann, ohne dass er die Tür einschlagen muss. Denn eines ist klar: Das Glück zieht vielleicht weiter, wenn ich die Fensterläden geschlossen halte. Der Tod aber klopft nicht nur an. Er zieht nicht weiter, wenn ich nicht öffne. Auch er macht keine Verträge mit mir, die ich einseitig aufsetze. Vielmehr kenne ich meinen Vertrag mit ihm gar nicht. Wenn es einen einseitigen Vertrag gibt, dem ich mich fügen muss, dann ist es genau dieser mit ihm. Sich widersetzen ist lächerlich. Aber genau darin liegt auch meine allergrösste Lebensquelle:

Wenn ich erkenne, dass meine Abbrüche, meine Falten, mein Grau, meine Hautflecken, meine dünner werdende Luft, mein Bedürfnis nach Langsamkeit, nach Ruhe, alles Zieleinläufe sind, mit denen auch immer wieder etwas gut werden darf und kann – dann wächst vielleicht die Demut vor dem neuen Tag zu einer neuen Fähigkeit, zu begrüssen, was ist – mit offenen Fensterläden. Das Haus meines Körpers, in dem ich wohne, möchte mir gerne fremd sein in seiner Vergänglichkeit, und doch komme ich mir genau darin näher, wenn ich offenen Auges bin. Es hat etwas Tröstliches, nichts auf ewig zu müssen – und Vieles immer neu lernen und vielleicht eines Tages begreifen zu können. Auf dass es ziehen gelassen werde – als vertrauter, verstandener Teil der eigenen Geschichte. Und davon bleibt dann immer etwas bei mir. Es sind dies die eigentlichen Trophäen des Lebens.