Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Vom Miteinander mit und ohne Einschränkungen

∞  27 August 2013, 18:20

Obwohl es ein Text aus den Ferien ist, kommt er nicht unbeschwert daher:

Einmal mehr wird mir bewusst, wie die Betreuung eines behinderten Kindes eine ganz eigene Welt schafft, in der Dank, Demut, Zuneigung und Deutung von Empfindungen so gelehrt und gelernt werden, wie wir sie in unseren eigenen Beziehungen gar nicht kennen. Oder auf jeden Fall nicht verinnerlichen.

Von unserem geräumigen, gemütlichen Balkon sehen wir direkt auf einen Teil der Pool-Area des Resorts. Auf einem Liegestuhl nahe am Pool sitzt oder liegt seit den späten Morgenstunden ein schmaler, hoch aufgeschossener Junge mit dünnen Armen und Beinen. Meist hat er die Beine leicht angezogen und manchmal strampelt er mit den Füssen. Die Arme hält er meist seitlich angewinkelt halb in die Höhe, um immer wieder beidseitig mit den herabhängenden Handflächen durch die Luft zu schlenkern. Er liest nicht, hört keine Musik, aber sein Blick saugt alles auf, was in seiner Umgebung geschieht. Seine Mutter, behäbig stämmig wie ein Wesen einer anderen Spezies, liegt manchmal im Liegestuhl daneben und liest ein Buch. Ihr Mann im Stuhl daneben, liest auch. Er vergräbt sich richtig in den Text, und den Beiden ist anzusehen, wie sie Ruhe tanken. Diese Pool-Landschaft ist für die Familie wie eine Oase, eine Tankstelle für die Seele.

Ein paar meiner Leser haben selbst eine Behinderung oder sind Eltern von Kindern, die mit Einschränkungen leben müssen: Es braucht jeweils nicht besonders viel Empathie, nur wache Sinne und einen offenen Blick auf die eigenen Wahrnehmungen, um nachdenklich zu werden, wenn sie erzählen von ihrem Miteinander in der Familie. Mich schüttelt es von hier oben, wenn ich dem Jungen zusehe und ich mir vorstelle, wie eingeschränkt sein Potential an Kommunikation ist. Und ich bin mir gleichzeitig bewusst, wie hochnäsig bis überheblich das wirken kann, wie sehr es eben einfach ausdrückt, dass ich mich nicht aus meiner Welt in jene des Jungen denken kann. Es ist nicht schwer, über Kinder zu staunen, wenn sie sich ihre Traum-Spielwelten erschaffen und darin völlig aufgehen – und es ist durchaus möglich, dass die Welt dieses Jungen ähnlich bunt ist. Womöglich hat er heute viel, viel mehr erlebt, und sich dabei viel besser entspannt, als ich hier oben in meinem kleinen Horst. Und die Eltern? Sie könnten mir so manche Geschichte erzählen von elenden Tagen, an denen die Nerven zum Zerreissen gespannt und weiter strapaziert werden – aber wohl auch von Sequenzen, in denen ein enormer Reichtum an Eindrücken durch die eigenen Räume zieht und sie zum Daheim macht, die unvergleichlich sind und ganz entscheidend und allein mit dem Jungen zu tun haben. Auch hier ist der kleine Grosse nicht einfach der Lernende, sondern mehr der Lehrende – gerade, weil seine kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt sind.

Wie diesen Eltern raten, wie sie unterstützen? Haben wir mehr drauf als das manchmal so schäbig wirkende Urteil, ob sich “so ein Leben” für die Familie lohne oder es nicht viel besser gewesen wäre, man hätte diese Situation “verhindert”? Dabei haben wir nicht mehr zu tun, müssen nicht mehr Einmischung, Engagement oder weniger Gleichgültigkeit zeigen als die Bereitschaft erfordert, die erste spontane Hemmung abzulegen, hinzusehen und zu versuchen, die Vielfalt zu erfassen, die auch in solchen Aufgaben und Gemeinschaften zu entdecken ist. Und angesichts der Strapazen, die im Ungleichgewicht der Kräfte für die Betreuer immer ein Problem sind, können wir noch etwas tun: Auf unsere eigenen engsten Beziehungen achten und danach fragen, wie es da eigentlich über all die Jahre unserem Respekt für den Nächsten ergangen ist? Hat er Kratzer erhalten? Spielen wir Spiele mit einander, indem wir einander die Dominanz des andern in gewissen Bereichen auf unserem eigenen Territorium zurückzahlen? Haben wir womöglich, mit ganz anderen Voraussetzungen als die Eltern da unten am Pool, das Gefühl, unsere Kommunikation laufe zu eindimensional, ohne dass wir noch auf den Gedanken kämen, wir könnten und sollten das ansprechen und damit die Chance auf Korrekturen wahrnehmen? Wir, die wir davon ausgehen, dass unsere Partner alle Sinne nutzen, machen allzu oft den Fehler, in der Tatsache, dass dies nicht verhindert, dass wir uns nicht gewürdigt fühlen, ein stilles Fazit zu ziehen, dass wir eben nicht mehr erwarten können.

Das ist dann für jede Beziehung eine Schande, ein Makel, ein trauriger Verzicht auf das Optimale, auf die Chance, einander zu finden, mit der Gabe aller Sinne. Diese Familie da unten hat diese Voraussetzung nicht – und tut womöglich viel mehr dafür, dass dieser Respekt dennoch zum Ausdruck kommt. Ich wünsche den Dreien von Herzen schöne Ferien!