Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Vom Hochmut

∞  21 Januar 2012, 16:36

Ein kleiner Versuch, die Entwicklung unserer politischen Systeme seit den Neunziger Jahren zu deuten – oder wenigstens ein paar Besonderheiten festzustellen. Oder sollte man von Absonderlichkeiten reden?


Wie aufregend, aufrüttelnd und im wahrsten Sinn des Wortes sensationell war der Moment, als die Menschen die Mauer in Berlin überwanden. Wie unfassbar gnädig war das Schicksal mit der Welt bei der Art, mit der das Niederreissen des eisernen Vorhangs und der Zusammenbruch der UdSSR und der DDR bewerkstelligt wurde: Wann ist jemals eine solche Umwälzung der politischen Weltordnung mit so wenig Blutvergiessen vollzogen worden?

Und was haben wir daraus gemacht?

Wir haben aus dem wirtschaftlichen Brachland Märkte gemacht. Zumindest dort, wo sie Gewinne versprachen. Schnelle und hohe Gewinne. Die Welt wurde global zum Schlaraffenland, zum frei begehbaren Tummelfeld der Grosskapitalisten. Die Prinzipien einer möglichst freien Marktwirtschaft erklärten fortan die Ursache jedes Problems und bestimmten auch die Lösungsansätze. Versuche, Korrektive einzubauen, sahen sich dem Verdacht der staatlichen Lenkung ausgesetzt, waren per se ineffizient und machten sich eines wie auch immer gearteten Schmarotzertums verdächtig. Es gab Zeiten, da stand jede Form von Aufwand für soziale Aufgaben an sich schon im Verdacht, unbegründet und vorgeschoben zu sein. Steuern können weltweit gar nicht tief genug sein, politische Ordnungen verstehen sich in erster Linie als Brückenbauer für neue Märkte, überall wird der Segen des Wettbewerbs vorgeschoben – und gleichzeitig alles mögliche vorgeschoben, um die eigenen Chancen in diesem Wettbewerb zu verbessern. Die Welt frisst ihre Energie –und bezahlt nirgends den realen Preis für diese Ressourcen.

Es scheint mir, dass sich jeder Ansatz, ein System lenkend gestalten zu wollen, um es gerechter zu machen, Schiffbruch erleiden muss, weil es keinen Wettkampf der Systeme mehr gibt: Jeder kapitalistische Ansatz kann je länger je unverfrorener und offener den schnellsten und höchsten Gewinn anstreben, weil längst bewiesen scheint, dass es zum kapitalistischen System keine Alternative gibt. Die Überlegenheit ist bewiesen, der Hochmut, keine Wahrheit als jene des wirtschaftlichen Fortkommens akzeptieren zu wollen, kann offen zur Schau getragen werden.

Es gibt keine Gegenentwürfe mehr. Die Philosophie erklärt heute den Konsum statt Weltordnungen, die Sportarenen sind die neuen Kathedralen. Politische Bewegungen erschöpfen sich in Zeltlagern vor Börsenplätzen, parteiliche Auseinandersetzungen sind innenpolitische Verteilungs- und Verdrängungskämpfe.

Peer Teuwsen analysierte letzte Woche in einem Leitartikel in der Zeit die diesbezügliche Lage in der Schweiz nach dem neusten Angriff der SVP auf die landeseigenen Institutionen. Er schloss seinen Artikel mit folgenden Sätzen:

Das Schlachtfeld ist angerichtet. Politik und Wirtschaft sind völlig verunsichert – und das in diesen ungewissen Zeiten. Jeder schaut nur für sich und versucht, seine Schäflein ins Trockene zu bringen. Nein, das ist kein schöner Anblick. Wer erhebt endlich seine Stimme gegen dieses Tun, das uns allen schadet?


Meine Antwort ist folgende: Wenn sich Kulturen so ungebändigt entwickeln, wenn sie hochmütig werden und diesen Hochmut auch erkennen lassen, dann ist der Moment nicht fern, an dem sich diese Systeme und ihre Protagonisten selber stürzen. Antrieb wie Verfall kommt stets aus dem inneren Kern des Systems. Was eine Ordnung stark macht, bringt sie zu Fall, so bals sie sich vergisst. Und sie vergisst sich immer, weil der Mensch die Demut nie lernt.

Wir leben in einer Phase, in der die Entfremdung zwischen Fussvolk und Führung in allen Dimensionen zunimmt, bis Kriege ausgerufen werden, welchen keine Soldaten mehr folgen mögen. Es ist allerdings zu befürchten, dass sie stattdessen so sehr unter dem Elend persönlicher wirtschaftlicher Nöte leiden, dass es völlig offen bleibt, ob die nächsten Umwälzungen mit so wenig Blutvergiessen vor sich gehen werden, wie beim Fall der Mauer. Blieben damals weite Teile Osteuropas mitten in ihren Hoffnungen wirtschaftliche Verlierer, sind die Lasten, die wir nun zu stemmen haben, tatsächlich globaler Natur. Nichts deutet darauf hin, dass wir dafür wirklich gerüstet sind.

Es sei denn, wir verweigern dem eigenen Hochmut die Gefolgschaft und machen die Krise zu unserer eigenen Angelegenheit. Sie wird uns nicht aufgebürdet. Wir haben alle dazu beigetragen, haben in unserem Fett von einem Schlaraffenland gezehrt, das niemals durch etwas anderes begründet war als durch ein Leben auf Pump und mit Ressourcen, die wir über Gebühr und ohne Ausgleich für andere verbraucht haben.