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Viel Ware oder viel Auswahl?

∞  31 Mai 2013, 22:00

Wir greifen als Konsumenten täglich scheinbar achtlos ins Regal. Darüber zerbrechen sich Marketingspezialisten weltweit täglich den Kopf, und es ist durchaus möglich, dass sie dabei immer wieder zu neuen alten Erkenntnissen gelangen.

Lidl feiert derzeit das vierjährige Jubiläum des Markteintritts in der Schweiz. Über die tatsächlichen Erfolgszahlen ist nicht nur bei diesem Discounter nicht wirklich substanzielles zu erfahren. Es muss und soll, wie bei Aldi, dessen Wachstum der Anzahl an Läden allerdings ein Indiz für den Erfolg ist, gemutmasst werden. Interessant bleibt in jedem Fall, wie die Schweizer Detailhandelsriesen auf diesen Markteintritt reagierten – und diese Strategie wieder revidierten.

Meiner Meinung nach ist das erste spontane Gegenargument gegenüber einem anders ausgerichteten Konkurrenten meist das richtige. Aber das wird sich hier noch weisen müssen:

Kaum eröffnete Aldi sein erstes Dutzend Läden, starteten Coop und Migros teilweise zweiseitige (!) Zeitungsinserate mit der Palette der bei ihnen, zum Beispiel, erhältlichen Teigwaren – im Gegensatz zum minimalen Angebot bei Aldi. Doch es ging nicht lange, und die Lieferanten der Detailhandelsriesen hörten in ihren Kundengesprächen vermehrt Schlagworte wie “Warendruck”, “Stress der zu grossen Auswahl” und dergleichen. Ausgedeutscht: Vor allem die Migros ortet in ihrem typischen Kunden einen stressgeplagten Menschen, der eben auch noch mal rasch einkaufen muss und nun vor dem Regal steht und ob der Fülle der möglichen Produkte, die alle sein Bedürfnis stillen könnten, statt in einen Kaufrausch zu geraten in Schweissausbrüche gebadet wird – und dann gar nicht zugreift: Es gibt die These, dass von einem Produkt übermässig mehr verkauft wird, wenn es auf vier Regalplätzen angeboten wird, statt nur auf zweien (Warendruck). Das kostet natürlich Fläche und ist nur zu bewältigen, wenn die Sortimente ausgedünnt werden. Und genau diesen Weg beschreitet die Migros zur Zeit, da sie in der zu grossen Breite des Sortimentes hohe Kostenfolgen für die Logistik und Warenbewirtschaftung im allgemeinen ausmacht – neben der Verwirrung des Kunden.

Die Verwirrung bis Verärgerung der treuen und wirklich eingefleischten Migros-Kunden nimmt man damit bewusst in Kauf – wohl eine Folge einer gewissen Ernüchterung darüber, dass auf die Kundentreue eh weniger stark gebaut werden kann als erhofft: Die Attraktivität der Discounter und der Einkaufstourismus ins grenznahe Ausland sind wohl ein grösserer Challenge als ursprünglich eingeschätzt. Hinzu kommt die jahrelange Gegenoffensive von Coop, ausgerechnet mit dem Argument verbilligter Preise und ausgebauter Eigenmarkensortimente den Anspruch der Preisparität mit Migros zu erheben. Und Coop kann auf dem breiten Fundus eines grossen Markensortiments dem Angriff der Discounter gelassener gegenüber treten: Bis zu diesem Zeitpunkt lässt Coop es auf jeden Fall ruhiger angehen und wird wohl genau beobachten, wie sich die neue Strategie des Konkurrenten auswirkt.

Dabei würde wohl ein Blick über die Grenzen weiter helfen: In vielen Ländern sind die wirklichen Supermarktketten, die so genannten Vollsortimenter, dann wieder attraktiv geworden, wenn sie sich auf ihre Kernvorteile besonnen haben und diese Vielfalt hervorhoben: Die eigentliche Challenge ist es nicht, die Vielfalt abzubauen, sondern sie so darzustellen, dass die Unterschiede in den Produkten heraus gehoben und damit auch am Regal sichtbar werden.

Wählen können ist doch kein Stress – sondern ein Einkaufserlebnis. Und dass man nicht jedem Kundenbedürfnis gerecht werden kann, damit können nicht nur Discounter leben, sondern auch Vollsortimenter. Es genügt, viel mehr Bedürfnisse viel besser bedienen zu können. Dem Rest mit Gelassenheit zu begegnen, schützt vor vorschnellen Strategiewechseln.

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(Anmerkung: Der Artikel ist vor einigen Tagen geschrieben worden, aber natürlich noch immer aktuell und hiermit erstmals publiziert)