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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Unterschreiben Sie einfach mit Ihrer Meinung

∞  9 September 2008, 20:57

Und wieder wird debattiert über die Misskultur anonymer Web-Auftritte. Die Scheinkultur der Debatte hingegen ist offensichtlich, wenn man sich nur lange genug anhört, oder anliest, was da alles vorgebracht werden mag…


Bei medienlese.com war in diesen Tagen eine neue Debatte zum alten Thema Anonymität im Netz und speziell in den Kommentarfunktionen zu verfolgen.

HALT. Bevor Sie dahin klicken, möchte ich Sie vorwarnen. Es geht auch da wieder um die leidige FACTS2.0-Geschichte. Unter anderem. Darum fasse ich hier zusammen, was mir AUSSERHALB dieser speziellen Debatte auffällt:

Niemand diskutiert leidenschaftlicher über die Notwendigkeit, im Netz immer mehr Klarnamen in Kommentaren zu verlangen, wie Medienschaffende, die sich etabliert haben (oder es glauben) und auch im Internet journalistisch unterwegs sind oder dort ihr Blog haben. Ihr Credo:

Wer guten Willens ist und ehrlich, kann in unserer Gesellschaft alles sagen, und wenn er sich vor den Konsequenzen fürchtet, so sollte er sich vielleicht wirklich überlegen, ob es dafür gute Gründe gibt. Nein, nicht für die Furcht vor nicht so entspannten Kritikern der eigenen Meinung, sondern für das eigene Schweigen. Tenor: Wenn Du nicht Held genug bist, hinzustehen und Deine Meinung zu unterschreiben, so schweigst Du besser, weil Du keine Wahrheiten verkündest, die ja doch unangreifbar sind…

So überheblich arrogant kann nur argumentieren, wer sich zu einer Elite des Internets zählt. Es ist, abgesehen davon, eine furchtbar intellektuelle Diskussion, die schon angesichts eines ganz einfachen Beispiels ad absurdum geführt wird:

Nehmen wir mal an, dass Sie sich in einer grossen Firma für eine Anstellung bewerben. In solchen Häusern passieren die Dossiers vor der Auswahl der Kandidatengespräche nicht nur das Chefpult der Abteilung, in der Sie arbeiten. Nein, da gibt es auch einen Personalchef, kurz, Personen, die ihre Prinzipien und Richtlinien haben – und die müssen nicht unbedingt immer im Firmen-Leitbild stehen.

Wer garantiert Ihnen, dass in diesem Prozess nicht ein strammer SVP-Soldat ein bisschen nach Ihnen googelt und dann seine Schlüsse zieht, wenn er Ihre SVP-kritischen Kommentare in Blogs liest? Und in der Folge Ihr Dossier nach hinten schiebt…?
Theoretisch? Unwahrscheinlich? Vielleicht. Eher wohl: Einfach (noch) selten. Aber prinzipiell möglich und in 99% der Fälle, in denen es tatsächlich vorkommt, für genau die Herren Journalisten, die hier so grossartig plädieren, dann doch kein Thema.

Es ist doch bezeichnend: Dutzende von Kommentaren von Medienschaffenden zur Identität des eigenen Auftritts – und kein einziger von ihnen nimmt die im gleichen Thread erwähnten konkreten Verstösse gegen den Auftritt unter eindeutiger Identität auf und hält den Finger drauf.

Dafür finden sich zum Thema anonyme Kommentare an jeder Ecke die Formaltheoretiker ein, die herzlich gerne um der Debatte willen wieder endlos diskutieren wollen.
Die Zeit wäre besser investiert, man würde tatsächliche Missbräuche weniger hinnehmen und dagegen dann wirklich gezielt vorgehen. Auch per Recherche.

Stattdessen bleibt man lieber allgemein – um dann selbst zugeben zu müssen, dass man unter Klarnamen Insider-Kommentare von betroffenen Journalisten zu abgebrochenen Medienprojekten ganz sicher nicht bekommen hätte.

Das Schönste für mich bleiben dabei meine Leser:

Während in dieser Diskussion angefügt wurde, dass alle Blogs Probleme mit anonymen Kommentaren haben und diese in ihrer Qualität weit hinter jenen mit identifizierbarem persönlichem Profil zurück bleiben würden, habe ich diese Probleme nicht. Ich kann beim besten Willen keinen qualitativen und vor allem auch charakterlichen Unterschied zwischen Dirk Deimeke und den Strandsteinen entdecken: Die Kommentare sind einfach so verschieden wie die Menschen dahinter, in jedem Fall aber aufrichtig, weil sie wirklich etwas mitteilen wollen.

Woran das liegen mag? Ich glaube, es ist schlicht nicht spannend genug, reflektierende Beiträge, die nicht polemisieren wollen um der Aufregung willen, zu sabotieren. Oder liege ich da falsch? Liegt es vielleicht auch daran, dass man selbst, als Blogbetreiber, demonstrieren kann, dass man mit Kritik umgehen und kritisch gegen sich selbst sein kann? Wie auch immer. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie aufmerksam lesen und besonnen kommentieren. UND kritisch. Nur so profitiere ich ganz direkt wieder davon. Von Ihnen. Und ich werde Sie als “Lieschen Müller” oder “Jammerhexe” grundsätzlich ernst nehmen. Bis Sie mir die Chance dazu nehmen. Durch sich selbst disqualifiziernden Inhalt. Dass ich dann zur Löschtaste griff, ist in fast vier Jahren Blogunterhalt an einer Hand abzuzählen.


[Bildquelle: infobib.de



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