Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Unsere unaufrichtige Entrüstung

∞  13 Januar 2012, 17:00

Es ist ein Video aufgetaucht, das amerikanische Soldaten zeigt, die in Afghanistan auf getötete Feinde urinieren. Die Entrüstung ist gross, auch und gerade in den westlichen Medien. Hillary Clinton lässt sich zitieren, das entspreche nicht den Werten der amerikanischen Armee.


Ich wundere mich. Und ich fürchte, ich werde wieder mal ein paar von Ihnen, liebe Leser, vor den Kopf stossen. Ich fasse mir nämlich bei dieser Gelegenheit selbst an den Kopf – angesichts der sich hier wieder mal manifestierenden Scheinheiligkeit bzw. Naivität, die wir bemühen müssen, um unser Bild von einer sicheren und bitte auch heilen Welt aufrecht erhalten zu können.

Immer wieder kann man trauernde amerikanische Soldatenmütter hören, welche meinen, ihr Sohn wäre doch dem Militär nur beigetreten, weil dies einen Job mit sicherem Einkommen versprochen hätte. Nie hätte sie gedacht, dass ihr Sohn mal an der Front kämpfen würde.

Wir sehen amerikanische Einheiten in Wüstenregionen, unter mentaler Extrembelastung stehende junge unfertige Menschen mit beschränkter Aus-Bildung, welche mit hoch technisierten Waffen einen Krieg führen, der im Dschungel der völlig fremden und feindlichen Welt, in der so wenig Freude an den vermeintlichen Befreiern rüber kommt, alles andere als klinisch geführt werden kann, sondern in unzähligen Situationen gipfelt, die jede für sich gar nicht abschliessend sicher eingeschätzt werden können. Den Soldaten bleibt über viele Monate kein anderer Umgang als der unter ebenfalls traumatisierten Kameraden in Soldatencamps, die etwas von einem Ghetto haben. Stresssituation folgt auf Extrembelastung, die Sinnfrage lässt sich gar nicht beantworten, der Tod bedroht einen selbst, oder man bringt den Tod.

Da bleibt man nicht der Mensch, der Mann mal war. Und es ist eines der grössten Ungerechtigkeiten für die Heimkehrenden, dass wir, die Gesellschaft, so tun, als wäre das nicht die Realität. Krieg ist grausam und furchtbar. Wir entrüsten uns über Soldaten, welche in einer Situation, in der dieser Stress von ihnen abgefallen ist, auf Leichen pinkeln, und erwarten ein Mitgefühl und einen Sinn für Menschenwürde, der es ihnen gerade unmöglich machen würde, am nächsten Tag für neue Leichen zu sorgen.

Ich heisse dieses Ereignis nicht gut, aber ich kann es nachvollziehen. Wenn wir zulassen, dass junge Menschen für wessen Sicherheit und welchen Frieden auch immer töten, wenn wir selbst eine Verteidigungsarmee unterhalten, dann müssen wir akzeptieren, dass wir damit Ja sagen zu Situationen, in denen wir die hier geforderte “Kultur” einbüssen. Sie geht verloren, entgleitet Menschen, die sich umgekehrt als Erste wundern dürften, wie wenig wir von ihren wirklichen Belastungen wissen wollen. Wir decken über das Drecksgeschäft jedes Krieges den Mantel einer Anständigkeit, den es in diesem Zusammenhang gar nicht gibt. Man kann sich nur bemühen, die Sache so schmal zu halten und so schnell zu beenden wie möglich.

Von den Werten der amerikanischen Armee zu sprechen, ist in dem Zusammenhang geradezu lächerlich. Die gleiche Armee, jedes innere Wesen irgendeiner überbelasteten Armee, zumal in fremdem Land, kennt dieses Ventil einer sich Bahn brechenden Angst, eines Drucks, der immer grösser wird – und kaum abzubauen ist.

Die Politiker, ja, die Gesellschaft, sollte sich besser damit beschäftigen, warum Guantanamo, Agent Orange in Vietnam, Abu Ghraib möglich waren und sind, statt sich über den fehlenden Respekt Einzelner in dieser Szene zu entrüsten. Und bitte, verstecken wir Europäer uns nicht dahinter, dass es ja die Amerikaner seien, die das zu verantworten hätten. Wir verstecken uns seit Jahrzehnten hinter deren Schild, in dem wir eine Art Sicherheit sehen und in dessen Schatten man ganz wunderbar moralisch werden kann.
In der Pinkelszezne wird kein Gefangener, von dem keine Gefahr mehr ausgeht, gequält, hier wird dem Beobachter im Grunde etwas ganz anderes gezeigt:

Wer instrumentalisiert töten muss, bleibt nicht Mensch. Die Einen pinkeln auf Leichen. Die andern fressen sich still in ihr uns fremd bleibendes Geheimnis hinein. Verloren gehen sie uns alle.