Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Unsere Desillusion ist gefährlich

∞  27 Dezember 2012, 12:52

Grafik: Th. mit istockphoto.com/Michael-Merck: “Rubber Frame”




“Wir dürfen uns nicht in Sicherheit wiegen”, lese ich als Überschrift über ein Interview mit einem Manager einer grossen Krankenversicherung. Irgendwie scheint mir diese Mahnung wie ein Geschwür zu sein, die unser Bewusstsein nachhaltig verändert.

Schweizer gelten schon lange als überversichert, unser Drang, als kluge Frauen und Männer vorzusorgen, ist oft belächelt worden. Doch unser Problem heute ist, dass wir Versicherungen aller Art nicht mehr trauen (können). Und dazu gehört nicht schierer Realismus, der weiss und bedenkt, dass keine menschlich geplante Versicherung gegen höhere Macht schützen kann, sondern die bittere Annahme, dass Versicheurngen Versprechungen sind, die wenn möglich nicht gehalten werden – oder sich schlicht nicht halten lassen, weil sich die Voraussetzungen ändern und niemand dafür grade stehen kann, oder will.

Berichte von Streitigkeiten mit Versicherungen, welche Kunden das Kleingedruckte der Verträge plötzlich überdeutlich machen, hat es schon immer gegeben und manchmal liegt darin nur die schon immer da gewesene Stammtischempörung und stille Rechtfertigung für den kleinen eigenen Versicherungsbetrug, bei dem ein Schaden schon mal vorsorglich zurecht gezimmert wird, damit sich die Versicherung “endlich einmal lohnt”, und am Ende vermag niemand mehr zu sagen, was zuerst war, die windige Versicherung oder der kleine Schelm mit dem grösseren Anspruch, als ihn der Schaden wirklich her gäbe.

Mag dies ein privates Scharmützel sein, das wir alle noch mit unserem eigenen Gewissen austragen, packt uns ein ganz anders nachwirkendes Befremden, wenn wir mitbekommen, wie sich heute Krankenkassen und Ärzteorganisationen, Krankenkassen und Spitäler, Politik und Pharmafirmen um Verrechnungsgrundsätze von Leistungen im Gesundheitswesen fetzen und wir alle erleben, dass vor allem anderen in der Notaufnahme die Zugehörigkeit zur Krankenkasse und die Identifikation des Versicherungstyps zählt. Wir stellen fest: Wir sind Viele, wir sind Viele mit Ansprüchen und bilden daher einen Riesenmarkt, und der ist zu allererst mal ein Geschäft, das Verteilungskämpfe und Bewahrungsstrategien hervorruft. Vorsorgeprogramme für alle möglichen Krankheiten werden hochgefahren und mit riesigem Kostenaufwand propagiert. “Wir dürfen uns nie in Sicherheit wiegen”, aber die Vorsorgeuntersuchung verschafft diese Sicherheit auch nicht, sie suggeriert etwas, das nicht zu haben ist.
Würde eines dieser Vorsorgeprogramme so entschieden betrieben, wenn es kein Geschäft wäre? Gibt es daher irgend eine Sicherheit, dass zum Wohl dieses Geschäfts nicht über die Stränge geschlagen wird?

Wir Versicherten sind ein Geschäft – begehrt als noch fehlender Kunde – vor allem dann, wenn die Chance gross ist, dass wir nicht so schnell zum Kostenfaktor werden. Tritt die Wahrscheinlichkeit doch ein, so sind wir ein Stück weit immer darauf angewiesen, dass die Versicherung ihren Kundenauftrag ernst nimmt und auch darin Marketing sieht: Leistungserbringung als Voraussetzung für ein prosperierendes weiteres Geschäft. So kann man als Versicherter gute Erfahrungen machen – so lange, wie eine Branche, ein Versicherungszweig “gesund” ist. Ist das einmal nicht mehr der Fall, beginnen die Absatzbewegungen, und dann entsteht das Gefühl, verraten und verkauft worden zu sein. Diese innere Befindlichkeit ist die grösste Gefahr, die allen Diskussionen um unsere Altersrente innewohnt. Und die Politiker sollten sich nicht täuschen: Die scheinbar moderaten Töne, nach denen sich die Bürger bewusst sind, dass mehr Eigenvorsorge vonnöten sein wird, um im Alter wirklich versorgt zu sein, die Durchsetzbarkeit von höheren Rentenaltern etc., alle diese Zugeständnisse an die Abspeckung des ursprünglichen Versicherungsmodells des Staates – sie sind nicht gratis zu haben. Damit einher geht die innere Abkehr dieser Bürger von ihrem Staat: Sie sehen in ihm einen Versicherungspartner, der in keiner Weise besser funktioniert und seine Leistungen verlässlicher erbringt, als ein privates Versicherungskonstrukt. Und das ungute Gefühl, dass gekürzte staatliche Leistungen und Ausfluchtverhalten privater Versicherungsmodelle sich gegenseitig anzustecken beginnen, auch spartenübergreifend, wächst.

Der Politik und uns wäre zu wünschen, dass sie in diesen Entwicklungen sehr viel stärker das eigene parteienübergreifende Versagen sehen und die Gefahr erkennen würde, dass sich die Bürger von ihrem Staat verabschieden.

Vordergründig dient die Durchsetzung von mehr privater Vorsorge an Stelle staatlicher Rentenmodelle dem Staatshaushalt, tiefgründig folgt daraus die Neuauflage einer Mehrklassengesellschaft. Nach “rechter” Politik ist, wer selbst vorsorgt, vernünftig und “eigenverantwortlich”, während die Repräsentanten der gleichen Politik zulassen, dass sich der Mittelstand ausdünnt und sich Berufschancen für Teilzeitarbeitende nicht wirklich verbessern. Es ist niemand da, der das politische Risiko eingeht, einen Staat zu fordern, der dazu steht, dass er Rahmenbedingungen für das sozialverträgliche Miteinander zu schaffen und dann auch zu erhalten hat. Gekürzt und gespart wird dort, wo eine starke Lobby fehlt. Es ist geradezu peinlich, zu sehen, wie Programme für sozial Schwache weiter gekürzt werden, die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen wächst und die Staaten bei künstlich tiefstgehaltenen Zinsen dennoch weiter Schulden machen, weil das Finanzierungssystem komplett pervertiert ist.

Das, was unsere Welt am Drehen hält, sieht im Bürger nur den Konsumenten. Die Läden haben heute alle wieder geöffnet.