Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


"Unser" Tessin

∞  21 September 2012, 18:46

In den Augen der Tessiner sind wir einfach zwei “dieser Deutschschweizer”, welche das Tessin als Ferienort schätzen. Wir sind Touristen und bleiben damit wohl Fremde. Zücchins (kosenamige Tessiner Verballhornung für “Deutschschweizer” allgemein) waren so etwas wie die ersten Invasoren im Tessin, noch bevor die Deutschen einfielen.

So mag das mancher noch heute sehen, aber viele Familien haben ihre Söhne auch in die Deutschschweiz und da meistens nach Zürich zum Studieren gesandt. Über die Generationen haben sich viele Rivalitäten abgeschwächt, womit nicht gesagt ist, dass das nur gut ist: Regionale Eigenheit bewahren, heisst, eine Identität behaupten, Ursprüngliches schützen wollen. Und es würde auch bedeuten, dass sich die Jungen nach wie vor mit dem Leben in den Tälern identifizieren könnten.

Die Realität sieht so aus, dass viele Tessiner Täler nicht mehr viel eigenes Leben haben und viele Dörfer und Weiler praktisch ausgestorben sind – oder eben Feriendomizile wurden, mit Steinhäusern, die touristisch ausgebaut sind, “auf alt” getrimmt, aber ohne jede wirkliche Originalität mehr, eine übergestülpte Identität eben, die allenfalls noch ein bisschen Wehmut enthält.

Dem Fremden mag dies egal sein, aber schon für den Zücchin, der seit 35 Jahren immer wieder hierher kommt, gilt das nicht. Jedes Grotto, das verwschwindet, schmerzt.

istockphoto.com/koun

Und nun also das Maggiatal. Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren bin ich zu Gast in diesem Tal.

Und ich bin begeistert. Nicht nur können wir unseren Freunden auch leicht begehbare Wanderwege auf dem Talboden vorschlagen – die Dörfer, die man so erkunden kann, haben noch Leben in sich. Natürlich ist auch hier Vieles touristisch aufgemotzt, aber man kann spüren, dass es in den Weilern und Dörfern noch Leben gibt und ich fühle eine Energie, welche die Menschen in diese Lebensart stecken – auch dann, wenn sie vielleicht nicht das ganze Jahr hier wohnen. Und es ist faszinierend, wie der Granitstein dieses Tal prägt, angefangen mit dem Abbau bei Cevio / Boschetto und sichtbar in unzähligen Bauten, geschliffenen Platten, in den Fels gehauenen Kavernen: Hier sind Grotti zu besichtigen, die noch so da stehen, wie sie seinerzeit den Felsen abgerungen wurden. Des Menschen Erfindungsgeist, seine Vorräte zu bunkern und sich für karge Zeiten zu wappnen – und in guten zu feiern und den Zusammenhalt zu pflegen – alles atmet ein Stück Lebensart, die mich immer wieder neu begeistert.


Alte Häuser in Cevio

Natürlich verkläre ich Vieles, wie es Gäste und Touristen eben tun. Und doch ist es wichtig, dass das bestehende Leben solche Wirkungen zeigen kann und Menschen anzieht, die gerne wieder kommen. Es ist nichts für den wilden Erlebnistourismus, für den mondänen Hokuspokus zivilsatorischer Eventbegeisterung – dafür darf man ruhig in Locarno oder Ascona bleiben – aber wer Ruhe, Beschaulichkeit und eine Abgeschiedenheit wünscht, die wenig Abschreckendes in sich trägt, der ist hier ganz wunderbar aufgehoben, zwischen Tessiner Weintrauben und Kastanienwäldern, am Fuss mächtiger Granitfelsen, die doch nicht bedrohlich eng zusammen stehen. Und ein Grotto für das typische, einfache, “ehrliche” und köstlich mundende Tessiner Essen lässt sich hier in vielen Dörfern finden.

Versuchen Sie es einmal selbst. Ich komme auf jeden Fall wieder.