Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Unser heutiges Gerangel

∞  8 September 2010, 21:13

Können sich Jugendliche heute noch an Weltbildern reiben? Woran entzündet sich Widerstand, Aufbegehren, Verbesserungswunsch und Sendungssehnsucht? Wenn man jung ist, dann möchte man die Welt verändern. Wir wollten mitdiskutieren, kritisieren, mitgestalten, verändern, wir dachten, dass es doch nicht wahr sein könne, so wenig vom Leben zu wollen, so viel zu verteidigen, das doch so wenig war.

Wir waren Teil einer Gesellschaft und wollten eine bessere haben. Wir wurden naiv geschimpft und ausgelacht. Der Alltag würde uns schon die Sachzwänge lehren und alles Wilde in uns glätten, einebnen, bis wir stromlinienförmig im Wind mitmarschierten.
Und irgendwie ist es ja auch so gekommen. Kommt es immer so. Die Kritiker von gestern sind die Kritisierten von heute. Die Umgestaltungsenthusiasten sind heute Brötchenverdiener. Wie könnte es auch anders sein? Heute ist die Welt rauher geworden. Wir haben es zumindest nicht verhindert. Denn wir waren mit Geld verdienen beschäftigt und kreierten den Slogan, dass “es” jeder schaffen kann. Wo denn, wenn nicht hier?

Unsere Väter waren noch in Vereinen. Sie engagierten sich in der Gesellschaft, waren Teil eines Dorfes, fühlten sich verantwortlich, wenn möglich sogar ungefragt. Geltungssucht konnte da schon mal unterstellt werden. Heute ist nicht mal mehr Profitsucht anrüchig.
Heute hat Wert, was wir schaffen, mehren, was sich messen lässt: Was sich nicht verkaufen lässt, ist ohne Wert, geht unter, wenn die Zeit knapp wird. Und dies ist immer mehr der Fall. Die Kids strampeln schon in den Schwingerhosen des Lebens, wenn es nur darum geht, ausgebildet werden zu wollen. Unzählige Absagen für eine Lehrstelle? Ein Albtraum, bevor der Ernst des Lebens zu wirken beginnen sollte. Und wir alle laufen mit, sind als Eltern gefordert, chauffieren vom Ergänzungsunterricht ins Fussballtraining ins Lernstudio und zurück. Es ist keine Zeit zum Atmen, dünkt es mich. Immer weniger Zeit ist es auf jeden Fall. Wir werden immer älter und doch immer atemloser. Wir sind nie fertig. Und irgendwie kommen wir nie dort an, wo eigentlich alles beginnen sollte:

Bei jenen Dingen, die unverkäuflich sind. Wir hängen am einzelnen Klunker und seinem Glanz, wir besitzen ein Funkeln. Und sehen das Licht nicht, das dieses Funkeln erzeugt, wenden uns nicht dem Wunder der Sterne zu, dem Segen der Dinge, die allen gehören, welche sehen können und nicht besitzen müssen. Schöne Dinge, die der Augenblick schenkt, sind unkäufliches Glück. Es kann auch nicht verdient werden. Es ist einfach da.

Für solche Wahrnehmungskünste braucht es keine Ideologien. Vielleicht wären sie sogar schädlich, wie jeder Fanatismus krankhaft ist. Aber ich wünschte mir, es gäbe mehr Zeitfanatiker. Menschen, die sich den Moment bewahren, in dem nichts sein muss und Dinge wahrhaftig geschehen können, in denen uns etwas widerfährt. Was wir verdienen, ist daneben so lächerlich fad. Es ist, wie wenn ein Kind eine Himbeere isst, die es reklamiert hat. Der Genuss ist vielleicht gerecht, verdient, erstritten, wohlgelitten. Er erreicht aber nie die gleiche Sinneswahrnehmung wie die gänzlich unverhoffte Labsal. Welcher Art auch immer.

Es gibt so vieles zu entdecken, das niemandem gehören kann. Und daher stets zu entdecken und zu ehren bleibt. Wir sollten es immerzu neu suchen – und darauf achten, dass die Gesellschaft, deren Teil wir sind, dafür Raum, Zeit und Luft lässt. Für die Alten und ihren Frieden. Für die Jungen aber erst recht, und für ihre Ideen für eine gerechtere Welt.