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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Unser Abschied von Adolf Merckle

∞  5 Februar 2009, 21:34

In diesem Beitrag geht es weniger um die Person Merckle, den Besitzer von Ratiopharm, der sich mit VW-Aktien verzockte und sich in der Folge vor den Zug warf. Es geht viel mehr um die Reaktion darauf in der Bevölkerung anlässlich seiner Beerdigung. Es geht also um uns. Auf die Gefahr hin, dass ich pietätlos wirke…

Was haben wir da genau für eine Geschichte? Adolf Merckle war ein Unternehmer. Als solcher, und nicht in erster Linie als Manager, hat er die Firma Ratiopharm zu einem allgemein angesehenen und wichtigen Hersteller billiger Arzneimittel gemacht. Merckle vermochte aber auch die Mechanismen der Börse zu nutzen, und er tat dies zu Beginn sehr wohl auf sein Unternehmen orientiert, indem er das allgemeine Interesse an seiner Firma und deren Börsenkotierung für weitere Zukäufe nützte.

Irgendwo in dieser Biographie eines Unternehmers muss es zu einem Bruch gekommen sein, irgendwann wurde jener Moment überschritten, wo Neuanlagen des Vermögens mit dem eigenen Unternehmen nichts mehr zu tun hatten, das noch schnellere Geld und dessen noch grössere Vermehrung lockten und auch Merckle überzeugt war, dass auch hier galt: Was andere können, kann ich schon lange. Und damit unterschied er sich ja nicht so sehr von so vielen unter uns, nicht wahr? Oder ist da auch nur einer, der im Laufe der Jahre sein Urteil über Aktienbesitz nicht zumindest sanft für sich selbst revidiert hätte? Das Anrüchige des Spekulanten wurde abgelegt. Es galt plötzlich als geradezu vernünftig, auf Aktien zu setzen, zumindest “mit langfristigem Anlagehorizont”.
Wer aber zu den wirklichen “Playern” gehört, schnelles Geld verdient, grosse Mengen bewegt, wichtiger Kunde ist, wer mit dem Gespür seiner Fingerspitzen die Welt auf den Fingerkuppen zu balancieren meint, verliert die Hemmungen im grösseren Stil, als wir sie selbst abgelegt haben:
Merckle spekulierte auf fallende Kurse der VW-Aktien – und nicht länger auf die rational ergründbare Prosperität einer gut fundierten Firma – sondern auf das Gegenteil. Der grosse Merckle war dabei ein kleiner Spielball in einem viel grösseren Machtkampf zwischen Porsche und VW, der sich tatsächlich einbildete, einen Machtpoker zu deuten, bei dem er nur Zaungast war. Höchstens. Mit Tabletten und Pülverchen hatte das nichts mehr zu tun. Mit Kaffeesatzlesen schon. Das ging schief. Und zwar sehr schnell. Merckle verlor am Pokertisch ein Lebenswerk. Was nur konnte ihn so weit bringen?

Wissen wir es alle? Liegt darin die Erklärung, dass 2000 Menschen an die Beerdigung kamen, diese in einem Stadtsaal zusätzlich übertragen wurde (!), dass an die tausend Menschen nach der Trauerfeier zum Sarg nach vorne gingen, dass wildfremde Menschen sich die Kinder der Familie griffen und das Bedürfnis verspürten, sie zu drücken und zu herzen?

Oder ist es die Faszination der Greifbarkeit einer einst unerreichbaren Entourage, eines zerbröckelten Reichtums, an dessen Ende man endlich mal grossherzig und ehrlich sagen kann, dass das bisschen Wald, Immoblienbesitz und ein paar wenige Millionen, die der Familie laut Spiegel Online bleiben sollen, kein bisschen Neid (mehr) hervorruft?

Ich frage mich, was für Mechanismen hier wirklich in der Gesellschaft spielen, dass alles vergessen geht, was man in dieser Geschichte auch sehen könnte:
Dass sich da ein Unternehmer, ein Ehemann und Vater davon stahl, als eigentlich wieder ein wenig Boden in Sicht war, als der Moment gekommen war, wo man hätte beginnen können zu fragen: Warum? Wie war es möglich, dass es so weit kam?
Wie mögen sich diese Kinder fühlen mit ihren unbeantworteten Fragen, oder gar mit der Tatsache, dass es keinen Weg mehr geben wird, den eigenen Grossmut, die eigene Hilfe zu beweisen?

Ist da tatsächlich etwas, was uns Merckle zum Märtyrer machen müsste? Er ist tot. Er hat sich nicht erschossen. Er hat sich vor den Zug geworfen und sich damit zum Abschluss nochmals für einen Menschen, für den Lokomotivführer zum Problem gemacht. Ich kann mir die Verzweiflung in Adolf Merckle sicher nicht richtig vorstellen. Aber was ich mir ausmalen kann, ist, dass man in diesem Wust an Verstrickungen tatsächlich ersäuft. Denn mit dem zerronnenen Geld zerbricht jede Fassade. Und es gibt genug Menschen, die sie einem niederreissen wollen. Wie kann man darüber auch nur im Geringsten überrascht sein, wie lässt sich darauf umgekehrt ein Leben aufbauen und abstützen, auf einer Welt, die man doch bereits erlebt hat in ihrer Widersprüchlichkeit, mit der sie einen unvermittelt auf Schilde hebt, die immer auch eine Art Falltür in sich tragen?

Die Pietät, die dieser “Fall” scheinbar gebietet, macht es uns allen leicht, genau das in die Geschichte hinein zu interpretieren, was wir für unsere eigene Seelenhygiene darin sehen wollen. Und darin geben wir alle dann auch ein absurdes Bild ab, so, als wäre auch mit etwas Distanz die Geschichte ungeheuerlich – und das, was uns selbst vielleicht noch erwartet, auch.




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