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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Überleben oder leben?

∞  17 Oktober 2012, 20:10

Wir alle werden einmal auf ein ereignisreiches Leben zurück blicken. Manchen kommt es vor, sie würden ein einfaches bis langweiliges Leben führen. Glauben Sie mir: Das gibt es gar nicht. Denn zu diesem unserem Leben gehören alle stillen Kämpfe mit dazu, die wir mit uns ausfechten.

Wenn wir erwachsen werden, stossen wir uns die Hörner ab, heisst es so schön.

Jugendlichen werden die “Sachzwänge” vorgehalten, derentwegen “Vernunft” von ihnen eingefordert wird.

istcokphoto.com/koun

Verwandtschaft und Chefs stellen Erwartungen – und der Mensch selbst merkt, dass sich seiner Erziehung gemäss, seinen Vor-Bildern, die er imitiert, um einer Orientierung folgen zu können, ein Gebilde um ihn manifestiert, das auch seine Zwänge hat, die auch aus seinem Innern kommen.

Wir alle akzeptieren Normen und machen fremde Erwartungen zu eigenen, und wenn wir sie ablehnen, wird auch daraus schnell mal eine Gesetzmässigkeit, an der wir Reflexe ausbilden, nach denen wir funktionieren können.
Und Grund für so viele unserer Orientierungen sind nun mal auch Verletzungen und Enttäuschungen.

Unverständnis wichtiger Vertrauenspersonen, eine enttäuschte Liebe, seelische oder gar körperliche Gewalt, Berufswünsche, die sich nicht erfüllen, oder der Preis verlorener Prinzipien für einen Karriereschritt.

Wir alle entwickeln, auch wenn niemand in zu sanktionierender Weise unsere persönliche Integrität untergraben hat, Strategien, mit Enttäuschungen und Verletzungen zu überleben. Geborgenheiten, die verloren gehen, Gefahren, die man nicht mehr teilen kann, Verletzungen, die nicht vernarben wollen – wir alle haben Angriffe zu bewältigen, die uns in einer Zeit herausgefordert haben, in der wir alles verkraften konnten, nur nicht das Verharren in dieser Not. Also verdrängen wir, ordnen ein, gerade so, wie es eben im Moment geht. Und dann machen wir weiter. Wir überleben.

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Wir werden älter und können an unseren Mitmenschen beobachten, was uns bei uns selbst gar nicht auffällt: Die Menschen leben in Cocons, tragen Panzer, haben Schutzschilder. Dass sie einen Herzschlag haben, bedeutet nicht, dass sie wirklich einatmen, das Leben zu sich lassen wie den bewusst gemachten Atemzug.

Mit dem gestandenen Alter graben sich Verhaltensweisen ein, mit denen wir uns vor gewissen Arten von Verletzungen und Angriffen schützen. Sie “passieren” uns nicht mehr – aber wir haben auch verlernt, kindlich unvoreingenommen zu sein. Wir können die Erfahrung, dass etwas ganz anders erlebt werden kann, dass eine Beziehung ganz anders verlaufen kann, gar nicht mehr machen. Wir schliessen manches Risiko aus und hadern dann mit dem Grauton unseres Lebens.

Es ist dieser Reflex, den wir Erfahrung nennen, auch wenn es nur ein Versteck ist, eine Burg, der Hort, an dem die Dinge nicht anders verlaufen können, als wir sie schon kennen.

Dabei wäre die Zeit, wenn die Pflichten weniger werden, ein möglicher Start für neue Betrachtungen: Wollen wir weiter überleben oder beleben, was wir mehr verlegt als abgelegt haben?

Menschen, die im fortschreitenden Alter aufblühen, ohne in Hektik zu verfallen, die ihren Erinnernungen die Härte nehmen können und sich der Gegenwart mit einem neuen inneren Lächeln zuwenden können, dehnen mir die Zeit, weil ich in ihrer Gegenwart gerne bei mir selber sitzen bleibe.
Mit viel weniger Scheuklappen, als sie mir früher vielleicht aufgesetzt wurden – womöglich von mir selbst.