Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Tief atmend auf der Schaukel besonderen Mitgefühls

∞  17 April 2010, 20:41

Ich lese zur Zeit Atemschaukel von Herta Müller.

Das Buch ist in Szenen, Beschreibungen von einzelnen Wahrnehmungen aufgeteilt und erzählt von einem fünfjährigen Aufenthalt in einem stalinistischen Arbeitslager nach dem zweiten Weltkrieg. Kein leichter Stoff. Und doch lese ich darin regelmässig vor dem Einschlafen. Der allgegenwärtige Hunger und die darin zum Ausdruck kommende Menschenverachtung könnten depressiv machen.
Die Schilderung der sinnfreien Ödnis in jedem Tag ist ohne jeden Schnörkel – und doch ist es Poesie. Herta Müller erzählt in Ich-Form die Geschichte eines jungen Mannes. Wie sie es tut, ist keine Aufforderung, in Mitleid zu versinken. Es ist eine Poesie des Mitgefühls, die ein ganz persönliches Leiden offensichtlich macht. Und das ganz grosse Verdienst der Autorin, das sie für mich hat, ist, dass dieses Mitgefühl bei mir tatsächlich nie in Mitleid kippt. Ich bin einmal mehr erschüttert darüber, wie wir Menschen in der Lage sind, einander zu behandeln. Aber Herta Müller macht durch Ihre Einfühlung und Behutsamkeit in der Sprache aus dem Opfer einen Lehrer. Ich denke regelmässig:

Wenn es mir nur einmal gelänge, einen Tag so zu erleben, wie ihn Müller erleben kann: Ich lese mich in diese fremde Welt – oder an ihren Rand – und das erste Erkennen gilt meinem eigenen Bewusstsein: Hätte ich einen kleinen Funken mehr Verstand für die Schönheit in meinem Leben, und würde ich ihr mit der gleichen Achtsamkeit nachgehen, die hier eine Autorin zeigt, in dem sie vom Sehen, Riechen, Schmecken, Denken und Fühlen eines Menschen erzählt, dem sie sehr, sehr gut zugehört und zugefühlt haben muss – ich würde wohl vor Glück fliegen können, so reich und schwerelos ist mein Leben. Könnte es sein.

Wer tiefstes Leid ertragen muss, ist im übrigen, immer auch ein Lehrer. Und manchmal denke ich, dass wir, die wir einigermassen geistig gesund geblieben sind, das Vermächtnis für ein wirklich achtsames Leben für jene Menschen hoch halten sollten, welche immer verwundet bleiben werden…:

Seit meiner Heimkehr hat jedes Gefühl an jedem Tag seinen eigenen Hunger und stellt Ansprüche auf Erwiderung, die ich nicht bringe. An mich darf sich niemand mehr klammern. Ich bin vom Hunger belehrt und aus Demut uerreichbar, nicht aus Stolz.

Herta Müller: “Atemschaukel”, im Carl Hanser Verlag München