Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Stillstand ist nie

∞  25 Mai 2008, 08:45

Wieder mal ein Beispiel für einen Text, der auf Grund eines Bildes entstanden ist (zur grösseren Ansicht auf das Bild klicken)



Das Leben will gelebt sein. Es hangelt sich der Zeit entlang. Manchmal vergessen wir das, dann wieder werden wir davon getrieben. Wir haben keine Zeit, wir nützen sie schlecht, wir sollten sie anders nutzen. Es ist mit der Zeit so, dass wir meist ein Gefühl für sie haben. Meinen wir jedenfalls. Dabei ist es mehr die Frage, was denn damit anzufangen wäre. Denn sie rinnt, diese Zeit, sie vergeht, und oft scheint es uns, dass sie dies schneller tut, als dass neue Zeit nachkäme. Unsere Zeit befindet sich in einer Sanduhr, nur dass wir nicht erkennen können, wie viel Sand noch auf das Verrinnen wartet.

Wenn wir es am Wenigsten erwarten, fühlen wir plötzlich ganz körperlich, wie die Zeit verrinnt. Wir leben dagegen an oder erstarren vor Schreck. Mutlosigkeit macht sich breit oder hektische Betriebsamkeit. Wir versuchen, schneller zu leben als die Zeit verrinnt.

Die meiste Zeit aber nehmen wir diese gar nicht wahr. Wir verdrängen unsere Endlichkeit in diesem Zeitenfluss. Unsere Lebensspanne ist beschränkt. Wir wissen das alle. Und doch können wir nicht danach leben, bis wir es physisch erfahren. Das Leben muss zur Neige gehen oder mindestens damit drohen, bevor wir uns der Besonderheit seiner Endlichkeit wirklich so bewusst sind, dass wir uns dem stellen.

Erst dann sind Fragen danach, wo wir herkommen, wo wir hingehen, was wir sind und wer, überhaupt möglich. Ohne unser Verhältnis zur Zeit, ohne dass wir vor unserer Sanduhr stehen, beantworten wir diese Fragen anders. Und die Antworten, die uns fehlen, werden erst dann nicht leichtfertig mit Alibis zugedeckt, sondern müssen einfach ausgehalten werden.

Wenn wir jung sind, erfolgreich, zum Mainstream gehören, was unsere mögliche Anerkennung betrifft, wenn wir hip sind, angesagt, einen tollen Beruf haben, Erfolg, so dass wir glauben, wir würden selber an den Rädchen drehen, ja dann hat die Zeit keine grosse Bedeutung. Wir gestalten sie ja! Es geht nicht ohne uns. Wir sind auf der Überholspur, und jene, die mutloser sind, gehören zu den Verlierern, die nichts aus ihrer Zeit machen.

Die einen bestimmen das Tempo, sind im Wettkampf, machen vielleicht gar die Regeln. Anderen bleibt das Zuschauen, das Dabeistehen, das Resignieren.

Das abgestandene Bier auf dem Tisch, die nassen Ringe auf der Tischplatte, sie erzählen genau so wenig die Wahrheit wie der Brillant im Ohr des Werbefachmanns, der mal schnell die nächste Kampagne textet für die schicke Uhr, welche die Zeit misst, die wir nach unseren Wertmassstäben verlieren oder gewinnen.

Der Zeit nahe sind aber vielleicht die Nachbarn dieser beiden verschiedenen Menschenvertreter, die im Moment irgendwo an einem Fluss sitzen und der leisen Strömung des Wassers nachblicken, während sie die Beine auf der Uferböschung ausstrecken, so dass das wachsende Gras die Waden kitzelt.

Kann Zeit wachsen? Muss sie zwangsläufig erschrecken? Kann sie nicht auch trösten?
Was wir nicht aufhalten können, fordert uns heraus. Der gesellschaftliche Looser hat vielleicht mehr über sie erfahren, als der Aufsteiger auf der Strasse draussen. Sein Problem ist nur, dass er damit nicht umgehen kann.

Vielleicht würde diese gleiche Zeit uns selbst, ganz privat, verraten, was wirklich zählt im Leben. Und wir könnten darauf verzichten, es uns vorschreiben zu lassen von Menschen, die Regeln für ein Spiel aufstellen, das sie vielleicht selbst nicht begriffen haben.

Zumal: Wer Respekt für die Zeit gewinnt, verliert sie niemals für lebendige Wesen. Er lernt eine neue Art Demut. Und daraus auch eine tiefere Freude, weil man sogar über die Zeit staunen kann. Es kann ein Schlüssel dafür sein, die Dimension zu erkennen, die darin jenseits aller Anfänge und Enden liegt.

Hey, Leute, ich würde da drinnen auf diesen Tisch jetzt gerne einen Blumenstrauss stellen. Und dann male ich mir vergnügt aus, wie irgendwann jemand die Blumen nimmt und damit an die Sonne tritt: Denn das Leben braucht Licht, um Energie zu spenden.
Ein Blumenstrauss als Wecker – auch so könnte man doch mal die Zeit zu begreifen versuchen. Nicht wahr?

[Bildquelle: © Thinkabout, Amsterdam, Mai 2008]


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