Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Staunen statt wundern

∞  13 Mai 2010, 20:58

Glauben Sie an Wunder?
Eigentlich möchte ich anders fragen: Kommen in Ihrem Leben Wunder vor?

Können wir darüber überhaupt diskutieren? Was ist denn für Sie ein Wunder? Ein Phänomen, das Sie nicht erklären können, das objektiv physikalisch nicht erklärt werden kann?

Es gibt eine nüchterne, rationale Weise, wie wir über nicht erklärbare Phänomene diskutieren können. Und es gibt eine subjektive Empfindung, eine Wahrnehmung, eine Art, wie wir emotional, aufgebrochen und seelisch offen, scheinbar vielleicht Rationales gar nicht anders erklären können oder mögen – als schlicht so: Was ich erlebt habe, ist ein Wunder.

Ein Arzt kann ganz genau erklären, was bei einer Geburt geschieht. Er kennt die biologischen Mechanismen, die medizinische Begleitung, hat ein Wissen von Risiken und Wahrscheinlichkeiten, weiss nüchtern, was geschieht, kann den Vorgang in verschiedenste Phasen aufteilen. Und dann erlebt er als Vater die Geburt seines eigenen Kindes mit, und diese Geburt läuft genau so ab, wie sie ablaufen sollte. Alles ist “logisch” erklärbar, ist “bekannt”. Aber für ihn ist es ein Wunder.

Gott sei Dank, ist es das. Es bedeutet nämlich nichts anderes, als dass die Regel, die wir in den Dingen erkennen, diese Dinge nicht entzaubern kann. Es gibt auch das Wunder der Ordnung – und stets das Geschenk des Augenblicks, die Beglückung, die da sagt: Dass das gerade jetzt gerade mir geschieht, geschehen darf?

Wunder ziehen täglich an uns vorbei. Auch das wissende Auge kann sie sehen – und in allem erkennen. Nichts ist so bekannt, dass es nicht zum Wunder werden könnte. Denn nichts muss selbstverständlich sein oder werden.

Ich bin nicht dafür, diesen Begriff inflationär zu gebrauchen. Ich will ihn nicht verharmlosen, verniedlichen, und auch nicht auf die blosse Wahrnehmung dank ein bisschen mehr Achtsamkeit reduzieren. Aber ich sage zum Beispiel gern, dass es mir als Wunder erscheint, zu bestimmten Zeitpunkten auf bestimmte Menschen gestossen zu sein. Das Wunder der Begegnung ist mir immer wieder wie eine Gotteshand, die mich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einen bestimmten Ort stellt – und jemand anders auch.
Ja: Wenn es dazu führt, dass wir staunender und dankbarer werden, dann bin ich dafür, dass wir uns mehr wundern dürfen. Falsches Wort eigentlich: Wenn wir uns wundern, dann sagen wir eigentlich schon, dass wir (be-)zweifeln. Ausdruck unserer rationalen Grundstrukturen. Man ersetze wundern durch staunen: Ja, mehr Staunen zu können, das würde uns allen gut tun. Die ganze Welt wäre dankbar darüber.