Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Stadtgeräuschgewusel

∞  19 Dezember 2008, 21:57

Ich stand heute auf der Bahnhofstrasse. Ich stand da so unbeteiligt, distanziert und gleichzeitig so viel achtsamer als in den Wochen zuvor, und ich hatte dabei die gleichen, nachhaltig fühlbaren Eindrücke wie kurz danach, als ich, von einem menschlichen, gleichermassen nachhaltigen wie flüchtigen Bedürfnis geführt, im Hauptbahnhof im Speiselokal “Au Premier” im ersten Stock stand, und auf die Menschen hinunter schaute.

Eigentlich musste ich also nur zur Toilette, doch danach las ich, zerstreut, wie Strandgut, an einer Infotafel hängen bleibend, von Bankettsälen und Firmen und deren Reservationen. Ich habe die Namen vergessen. Nein, ich habe sie mir gar nicht gemerkt. Es war still in diesem Korridor, in dem der Teppich die Geräusche dämpfte und mir Eindringling drohte, mich zu verschlingen. Ich wandte mich den Geräuschen von draussen zu, der Tür, die in den Speisesaal im ersten Stock des “Au Premier” führte, und ich blickte von der Garderobe hinunter von der Estrade, auf Menschen, die da unten genau so sassen und assen wie die da oben, während ich da stand, in unpassender Kleidung und ohne Absicht zu bleiben.

Kein Kellner musste mich nach meinen Wünschen fragen. Ich stand da und musste nichts erklären. Niemand wollte etwas von mir, niemand beachtete mich, während mein Blick über Hinterköpfe streifte, gebäugte Rücken betrachtete, die sich über weissen Tischtüchern zum Menschen gegenüber beugten, während links und rechts andere das gleiche taten und sich gegenseitig dabei zu behindern schienen. Draussen hasteten Menschen vorbei, immer wieder neue Menschen, hier drinnen rasten die Stimmen, zwängten sich zwischen die Pflanzen aus Plastik und zersprangen an klapperndem Geschirr.

Weihnachten ist nah. Ich ging sehr langsam nach unten, liess den Lift unbenutzt. Eine Frau hastete an mir vorbei, hob aber den Kopf und lächelte mich an, grüsste mich gar. Sie hatte die kommenden Festtage im Gesicht.

Also doch, dachte ich zufrieden, und trat auf die Strasse, wobei ich alle paar Schritte das Bedürfnis hatte, still zu stehen und tief Atem zu holen. Es war nicht wirklich leise da draussen. Aber die Geräusche vermochten mich hier nicht zu betäuben. Das Tram legte sich kreischend in der Kurve, doch es fuhr weiter.

Weihnachten ist nah. Und bald wieder fern.

Wir werden weiter versuchen, mit einander zu leben.
Und mit uns selbst auch.


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flüchtig ist nicht nur das Geräusch, sondern oft auch der Impuls für das Gefühl