Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Sind wir im System vorgesehen? Und wie?

∞  5 Januar 2010, 19:47

Ein paar Tage hat sie angehalten, die Bestürzung über einen depressiven Fussballprofi, der sich das Leben nahm. Doch wie mit all unseren Trauerbemühungen, so ist es auch oder erst recht mit Projektionen, welche wir auf die Personen der Öffentlichkeit wie Robert Enke ausrichten: Sie sind irreal. Wer sich für Fussball interessiert, und das Gefühl hat, den besten zuzuschauen, fühlt sich privilegiert, dem Spiel seiner Helden beizuwohnen. Längst geht es nicht mehr nur um “das Spiel”. Es ist nun ein Schauplatz, ein Theater, eine Inszenierung, und die Selektion vom Talent zum Star “macht” Typen. Jeder einzelne hat eine Geschichte, die ihn auszeichnet, von der man zumindest mit einem gewissen Recht behaupten kann, sie wäre aussergewöhnlich. Und wenn da ein Langeweiler ist, dann ist DAS das Besondere.

Die Sensation ersetzt die seelische Sensorik, es wird mitgefiebert, jeder einzelne ist Teil eines richtigen Fiebers. Die Hitze, die sich aufstaut, muss abgelassen werden, die Erruption gehört zum Programm. Immer auf hundert, immer im Vollwichs. Das Rad Fussball, das Rad Wirtschaft, das Rad Karriere, es dreht sich, und keines ist da, in dem nicht ein Hamster sitzen würde.

In aller Regel ist es eher so, dass sich dieser Hamster durchgebissen hat, um genau in diesem Rad laufen zu dürfen und dabei beobachtet zu werden.

Und alles wird gesehen, aber nicht angeschaut, kommentiert aber nicht besprochen, deklariert aber nicht untersucht. Ich weiss gar nicht, ob es möglich ist, in diesem Zirkus einer grossen Sportart, in führenden Theatern oder in der Filmindustrie oder in leitender Position in grossen Firmen eine Person zu bleiben, die man in jedem Moment als die eigene Person zu erkennen vermag.

Im Grunde muss man für einen guten Teil seiner Umwelt eine Abscheu entwickeln, wenn man erkennt, wie dieser Teil gefüttert werden will, was er sucht und sicher findet, und was er unter den Teppich wischt. Wenn man Glück hat (Ansichtssache), ist man abgefeimt genug, das Spiel anzunehmen und den Raubtieren immer ein bisschen Futter zu geben. Sich entziehen ist heute kaum mehr möglich. Auf dem Feld sind es heute 20 Kameras, nicht mehr fünf. Die Zeitlupe ist eine Superzeitlupe, welche die Haare im Nasenloch scharf abbilden kann. Und abseits der Bühne, des Spielfelds ist das Spiel dennoch nie wirklich zu Ende.

Jetzt kann man sagen, das wäre eine Kunstwelt, und die hätte mit dem realen Leben von uns allen sehr wenig zu tun. Aber ich bin mir da nicht ganz so sicher. Unser aller Lebenssystem ist mit einer Diagnose wie “Depression” überfordert. Wir stecken alle in einem System. Wie viel, von dem, was wir leisten, fordert eigentlich das Leben von uns – und wie viel fordern wir selbst, weil unsere Gesellschaft es tut? Was ist Wert und was ist Geltung? Wir machen das Leben zur Blase, bis es knallt. Im Grunde ist eine “Trauerbezeugung” der Massen wie bei Robert Enke eine Art lautloser Wutschrei gegen die eigene Leere, die inmitten unserer Welt so leicht zu überspielen ist und uns alle doch immer einsamer macht – weit weg von uns selbst.


abgelegt in Gesellschaft und Erdlinge