Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Sie spricht vom Sterben

∞  5 Juni 2011, 21:24

Die ersten wie die letzten Schritte gehen wir allein.
Dieses Gefühl, am Ende allein zu sein, kann man nicht wegreden. Und man soll es auch nicht.


Ich schätze mich glücklich, dass meine Mutter mit mir auch über das Sterben spricht. Ich weiss, dass die meisten Bekannten in meinem Alter dies mit ihren Eltern nicht können. Ob sie es sich wünschen würden, oder deren Mütter und Väter, weiss ich nicht. Mir ist aber sehr wohl bekannt, wie häufig alte Menschen die Erfahrung machen, dass die eigenen Kinder, nehmen sie das Thema vor ihnen auf, sofort auf Durchzug schalten. Dann werden Durchhalteparolen abgesondert, oder, noch schlimmer, die erste Bemerkung zum Thema wird zur letzten, weil schnell klar wird, dass man das nicht hören will: Die Jüngeren reklamieren für die Älteren deren Lebensfreude (wie wenn das möglich wäre). Die Lebenshungrigen urteilen für die Lebensmüden.

Dabei müssen und dürfen wir doch so offen sein, dass wir erkennen, wie schmal und klein so ein altes Leben werden kann, und wie mühsam. Die Energie lässt nach, sie weicht aus dem Körper wie die Luft aus einem Ballon, und oft ist der Geist leider genug wach, um dies haarfein in jeder Pore mit zu erleben. Oder eben zu erleiden. Die Besuche werden seltener, das Zimmer wird kleiner, die Welt vor der Tür bedrohlicher. Die Perspektive verengt sich, und über das Leiden, das droht, spricht niemand mit mir? Das ist doch grausam. Und doch ist es Realität. Der alte Mensch macht viel zu oft die Erfahrung ganz allein mit sich aus, dass der letzte Gang des Lebens ihm schonungslos offenbart, dass er wirklich allein ist – und ihm etwas bevorsteht, das er wirklich allein zu bewältigen hat.

Wie schön wäre es da, wenn dieser Mensch seinen Frieden machen könnte mit Allen, die ihm wichtig sind. Ich glaube, dass wir als Angehörige ein Sterben, den Tod selbst, aber auch die lange voraus vielleicht schon beginnende mentale Einstellung auf diesen Prozess für Betroffene sehr erschweren – aber auch wirklich erleichtern können.

Und so freue ich mich, dass meine Mutter mir von ihren Gedanken erzählt, von ihrer Lebensmüdigkeit, davon, dass sie “es gesehen hat” und gerne gehen würde. Es liegt keine Bitterkeit darin. Diese Haltung schliesst nicht mal aus, dass sie immer wieder einen Weg findet, den nächsten Tag positiv anzugehen. Vielleicht kann ich ihr einen tröstenden Gedanken dazu eröffnen: Wenn wir doch alle so viel Angst vor dem Tod haben, so ist es vielleicht eine Gnade des Schicksals, dass diese Angst irgendwann von einer gewissen Lebensmüdigkeit abgelöst wird.
Wir Angehörigen wehren uns dagegen, denn wir glauben daran, dass fehlender Lebenswille den Abschied beschleunigt. Aber reden wir mit dem Menschen über seine Angst? Wir müssten die eigene hochkriechen lassen – und dabei dann auch noch ehrlich bleiben.

Währenddessen hat der alte Mensch seine grösste Furcht auch bei bestehendem Verständnis nicht hiner sich, sondern vor sich: Nicht der Tod macht mehr Angst, aber das Sterben an sich, das Leiden, die Dornen am Weg, nicht das Ziel. Und erneut setzt so mancher Widerspruch ein, wenn man sich für den eigenen Gang Grenzen der Qual wünscht. Dabei finde ich, dass diese Entscheidungen dem Betroffenen allein zustehen. Er darf und muss dies mit sich selbst und seinem Geschick, seinem Selbstverständnis oder seinem Gott ausmachen.

In allen diesen Fragen, in den düsteren Gedanken, die durchaus immer wieder Licht zulassen können (worauf die einsetzende Heiterkeit von einer ganz besonderen Leichtigkeit ist, die sich ganz wunderbar anfühlen kann), bin ich, wird mir davon erzählt, ein beschenkter Mensch. Denn wenn ich eines meiner Mutter antworten kann, auf ihre Angst, auf die Erkenntnis, wie allein man doch ganz real am Ende ist, dann dies: Ja Mutter. Aber so, wie vor Dir viele, alle Menschen den gleichen Weg gegangen sind, so wird er auch für Dich am Ende sich erfüllen, und alle Angst wird ein Ende haben. Dadurch aber, dass Du mit mir darüber sprichst, und ich keine Angst davor habe, wird mir daraus ein ganz grosser Trost erwachsen – für meinen eigenen Weg, der sich genau so erfüllen wird, in einer Vorstellung und Art, die vielleicht noch sehr fern, vielleicht auch ganz nah ist. Bis dahin werden wir im Gang von Sonnenauf- und –untergang nach unserem Weg fragen, ihn gehen und einander erzählen können, wie wir mit den Gewissheiten und Ungewissheiten dabei umgehen können. Tun wir es nicht, sind wir in unserem Alleinsein auch noch sehr einsam. Und das ist nicht nötig. Das ist uns Menschen nicht eigentlich zugedacht. Dafür hat Gott sich nicht die Pflegenden in den Pflegeheimen gedacht, nicht sie allein, sondern uns Menschen ganz allgemein die gleichen Fragen aufgegeben. Hätten wir alle Antworten, könnten wir uns für uns selbst die reine Verdrängung leisten, obwohl wir sie genau dann nicht mehr nötig hätten. Da uns aber bis zuletzt Fragen bleiben, sollten wir geradezu aufhorchen, wenn jemand vom letzten Stück des Weges erzählen möchte. Es kann auch enorm helfen, das eigene Leben nicht zu verschlingen, sondern wie ein Geschenk auszupacken. Jeden Tag neu, um dabei immer wieder Neues und Währendes zu entdecken.