Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Seiltänzer bis zum Tod?

∞  10 Juni 2009, 21:35

In der Weltwoche Nr. 23/09 schreibt Martin Werlen, Abt des Klosters Einsiedeln, über das marode Gesundheitswesen und die Ursachen dafür in einer Gesellschaft, die Gesundheit über alles andere stellt.
“Hauptsache, gesund.” Nichts wünschen wir uns jeweils fürs neue Kalender- oder Lebensjahr so sehr wie gute Gesundheit. Was ist, wenn dies nicht in Erfüllung geht, mögen wir uns gar nicht erst mehr vorstellen. Wir setzen, wenn wir ehrlich sind, die Würde des Menschen mit dessen Gesundheit gleich. Krankheit ist ein Fehler der Natur und gehört ausgemerzt, korrigiert, und dafür haben wir Rechte gegenüber der Gesellschaft. Sind wir krank, so haben wir den Anspruch auf beste Behandlung, Gesundung, alles andere ist undenkbar, weil nie gedacht.
Es ist nicht schwer, sich auszurechnen, dass unser aller Rechnung am Ende nicht aufgeht. Wir werden alle krank. Der Körper mag es uns in ganz verschiedenen Weisen vermelden, aber am Schluss sind Sie tot, bin ich tot. Ich sterbe so sicher, wie ich geboren worden bin.

Die Hauptsache in unserem Leben müsste also etwas anderes sein. Was haben wir für eine Lebenserwartung? Fünfzig Jahre plus die Ewigkeit, oder achtzig plus nichts? So fragt Werlen in seinem Artikel uns selbst. Ich kann Ihnen die Antwort nicht geben. Aber ich kann sie für mich in meinem Leben suchen. Und nur schon die Tatsache allein, dass ich mir, verhaftet in meinem sterblichen Körper, nie sicher sein kann, ob ich der Wahrheit wirklich auf der Spur bin, sollte mir Ansporn genug sein, jene Gewissheit zu suchen, die jenseits meiner sterblichen Hülle Teil meiner Seele ist, ja deren Kern.

Werlen gebraucht eine wundervolle Präzisierung in einem anderen Gemeinsatz, der ein Stück spirituell-religiöses Wissen wiedergibt: Er spricht nicht nur davon, dass wir von Gott geschaffen worden sind, sondern auf Gott hin geschaffen. Das bedeutet nichts anderes, als dass ich in meinem Leben etwas werden kann, ich auf eine Erfüllung hingeführt werden soll. Das schliesst das Bewusstsein des Sterbens nicht aus, sondern macht es vielmehr zum Teil der Lebensschule. Ich weiss nicht, ob Sie religiös sein müssen, um solchen Gedanken folgen zu können. Aber wenn Sie von Zeit zu Zeit das Gefühl haben, dass es nicht das einzige Ziel sein kann, sich mit der verstreichenden Zeit zu arrangieren, dann sind Sie Ihrer inneren Würde auf der Spur. Es ist jene Würde, die durch Krankheit und Tod nicht antastbar ist, die zu pflegen aber auch im blühenden Leben ein Innehalten fördert, in dem nicht um viel Zeit gebeten wird, sondern um Zeitlosigkeit:
Um die Befreiung von allem Zwang, auf dem Seil der sich streckenden aber nie wirklich sich dehnenden Zeit balancieren zu müssen.