Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Schweizer im sportlichen Hoch

∞  15 Oktober 2013, 23:32

Wie sehr ist die Schweiz eigentlich eine Sportnation?

Ich habe keine Ahnung, aber ich finde: Sehr.
Und im Grunde ist es mir auch gleichgültig. Mich interessiert daran die Quelle, der Ursprung, wie Erfolg (oder in anderen Fällen Misserfolg) erklärt werden kann. Wofür die Erfolge stehen. Welche Gleichnisse der Sport erzählen kann.

Das Achtmillionenvolk der Schweizer stellt zwei Tennisspieler der TopTen, ist aktuell Vizeweltmeister im Eishockey und fährt zum dritten Mal in Folge an eine Fussballweltmeisterschaft. Können Einzelerfolge immer mal wieder mit besonderem Talent und einer speziellen Konstellation, mit dem Einsatz der ganzen Familie erklärt werden, lassen Erfolge in Mannschaftssportarten weiter gehende Deutungen zu:

Der Erfolg der Eishockeyaner in diesem Frühjahr war eine einzige grosse Inspiration für alle Schweizer Sportfans: Da hat ein Team mit absolutem Teamgeist, mit Talent und positivem, spektakulärem, mutigem Spiel die Schlagzeilen des ganzen Turniers dominiert. Die Entschlossenheit und Geradlinigkeit und die absolute Solidarität in der Mannschaft hatten eine Strahlwirkung im ganzen Land – und wir rieben uns ungläubig die Augen:

Aha, so geht es also auch.

Normalerweise ermauern wir uns einzelne Siege, gewinnen heroisch verteidigend eine Schlacht und sind darob so enthusiasmiert, dass wir anschliessend den Krieg – natürlich – dennoch verlieren. Der Schweizer ist ein relativierender Mensch, und er glaubt(e), stets gut zu fahren, wenn er nur nicht zu sehr auffällt. Und nun so etwas?

Eishockey ist in der Schweiz populär, die Sportart auf zwei Kontinenten ist es auch, aber sie bleibt – ihrer teuren Infrastruktur wegen – doch beschränkt auf Nordamerika und Europa. Der Erfolg wurde letztlich erleichtert, weil sich das Schweizer Eishockey immer mehr geöffnet und die Jungen die Herausforderung Nordamerika angenommen haben – trotz sehr guten Verdienstmöglichkeiten in der “sicheren” Schweiz: Der Wille zum grösstmöglichen Wettbewerb führte zu immer besserer Basisarbeit schon in den Juniorenzentren.

Im Gegensatz zu Eishockey ist Fussball ein Sport, der jedem offen steht. Es braucht sehr wenig, um kicken zu können, das Spiel ist einfach und wird von fast jedem verstanden – und die Faszination ist rund um den Erdball ansteckend. Sport und insbesondere Fussball ist ein Element der Integration und Selbstbehauptung für Migranten – das ist überall je länger je mehr zu beobachten, gilt aber auch sehr speziell für die Schweiz. Für uns haben nicht weniger als sechs Spieler mit albanischen Wurzeln in der erfolgreichen WM-Qualifikation für Brasilien gespielt, der Kapitän Gökhan Inler hat türkische Wurzeln, Herren namens Rodriguez, Seferovic, Senderos, Djourou unterhalten sich problemlos mit den Kollegen Stocker und Wölfli – der Anteil der Schweizer mit Migrationshintergrund in zweiter oder dritter Generation ist riesig – und doch auch ein positives Abbild einer Gesellschaft, in der Schweizer zu sein sehr viel mehr bedeutet als die gleiche Muttersprache seit Generationen zu haben. Und diese “neuen” Schweizer leben uns auch etwas vor: Sie wollen nicht nur ein Spiel gewinnen, sondern immer das nächste. Sie reden nicht nur so, weil das ja jeder tut (“sonst können wir ja gleich zu Hause bleiben”), sie glauben auch daran. Vier, fünf Spieler der U17-Weltmeistermannschaft sind nun im A-Team angekommen. Schöne Aussichten. Und für jubelnde Fans wie bockige Nörgler aus dem Hinterwäldlerland eine willkommene Gelegenheit, in den kommenden Jahren als Schweizer wieder neu zu definieren, was das eigentlich ausmacht:

Diese solidarische Interessen- UND Lebensgemeinschaft in einem kleinen Land im grossen internationalen Wettbewerb. Alinghi war und der F1-Rennstall Sauber ist ein Beispiel, bei dem vorgelebt wird, wie Investitionen, Knowhow, seriöse Arbeit und Anziehung für internationale Spitzenkräfte enorme Leistungen möglich machen können – und Fussball ist vielleicht noch der viel ehrlichere Zeuge dafür, wie Talent sich vervielfältigen kann, wenn es sich in der Gruppe entfalten kann und Respekt und Wille für das gemeinsame Ziel Berge versetzen kann.

Ich liebe es, die unterschiedlichsten Menschen und Mentalitäten zu beobachten, wie sie sich zu einem Ganzen finden. Ach ja: Geführt wird diese Truppe übrigens von einem Trainer, der für uns Schweizer ist und für die Deutschen Deutscher. Dass die Deutschen Recht haben, ist dabei egal. Denn Hitzfeld weiss selbst sehr genau, was er der Schweiz an Identität zu verdanken hat – und die Schweiz weiss umgekehrt wohl auch, was dieser Trainer für ein Beispiel gegeben hat – in einem langen Berufsleben.

Brasilien, wir kommen. Und wir werden wunderbar vertreten. Ganz egal, ob der Ball dann nur an den Pfosten geht oder rein kullert. Das ist die faszinierende Krux an dem Ganzen. In letzter Konsequenz könnte alles auch nur Zufall sein. Oder?

Auch hier ist der Sport wunderbares Sinnbild: Für den Erfolg, auch den, der sich scheinbar zwingend erklären lässt, braucht es immer auch Umstände. Einen Teil kann man erzwingen, aber zu glauben, alles daran wäre verdient und “logisch”, ist der Anfang des Verlustes jeder Bodenhaftung.

Dass uns Schweizern das nicht so schnell widerfährt – das ist so ein Schweizer Bild, mit dem ich gut leben kann.