Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Scheinbare Toleranz oder echte Akzeptanz?

∞  30 November 2009, 21:04

Nun ist also eingetreten, was ich vermutet habe. Die Minarett-Initiative ist angenommen worden, und ich spüre schon nach nur 24 Stunden eine veritable mentale Erschöpfung angesichts der Herausforderung, meine Geisteshaltung zu erklären und auszuführen, die nicht nur Schwarz oder Weiss kennt und sich nicht den liberalen Umhang geben mag, mit dem man auf geistigen Höhenzügen reiten kann.

Ich fühle mich müde. Ausgebrannt. Ein wenig hilflos auch. Aber mutlos? Dazu besteht kein Grund, eigentlich nie. Es gilt nur, sich zu vergegenwärtigen, was uns alle verbindet, die wir uns Religionsfreiheit wünschen, weil wir in diesem Raum die für uns existenziellen Fragen untersuchen können. Mich verbindet mit den Gläubigen aller Religionen und den Anhängern aller Philosophien nicht ein Antwortkatalog, aber sehr wohl die Palette vieler geteilter Fragen – auf die wir, wenn wir für uns allein der flüchtenden Zeit gegenüberstehen, nicht wirklich die letzte Antwort haben können.

In den verschiedensten spirituellen Ausgestaltungen unseres jeweils persönlichen Glaubens liegt eine Vielfalt, wie sie auch in unseren unterschiedlichsten Charakteren abgebildet wird. Und doch scheint mir, dass wir nirgends so eng zusammenrücken könn(t)en wie in der spirituellen Kontemplation:
Jenseits aller Reibungsverluste im unnötigen Streit, wessen Gott denn die Wahrheit spreche, könnten wir jene Wahrheiten tiefer ergründen, die Erkenntnisse aller Religionen sind. Es liesse sich der Respekt leben, der zuhören lässt, es liesse sich gemeinsam studieren, gar beten oder meditieren. Wer nach der Zeit fragt und jene Gelassenheit lernt, die nicht mal mehr der Leere einen Raum zuweisen muss, will nicht mehr Recht haben vor anderen, sondern den Frieden in sich selbst vertiefen. Und er wird auf dem Weg dahin alle achten und ehren, die ihm dabei ein Stück weit Begleiter sind. Egal, welchen Bergführer diese Menschen auch selbst als den besten für sich erkannt haben.

Und darum denke ich in diesen Minuten an die Fremdenführer, die uns an den entlegensten Orten der Welt in ihre Gotteshäuser begleitet haben und mit Demut, Würde, aber ohne jeden bedrängenden Eifer die Welt ihres Glaubens erklärt haben. Und ich sehe mich auf Teppichen sitzen, an Altären kauern, Lithurgien lauschen, und mir wird in diesen Minuten klar, welches Geschenk ich dabei erhalten habe.

Ja, ich wünsche mir eine Schweiz, in der alle Religionen in friedlicher Koexistenz leben können, ich wünsche mir Minarette, die genau so selbstverständlich gebaut werden wie Kirchtürme. Warum habe ich geholfen, es zu verhindern?
Weil ich glaube, dass wir für diesen hohen Anspruch noch nicht so weit sind. Man mag es glauben oder nicht: Gäbe es die Kirchtürme noch nicht und bestünde dafür ein Bedürfnis, so erginge mein Stopp-Ruf nach beiden Seiten: Es ist keine Einbahnstrasse. Wir müssen mehr wissen wollen. Ohne Angst. Mit offenen Händen. Wir brauchen aber auch die selbstbewusste, Vertrauen aufbauende muslimische Gemeinschaft, die sich nicht nur erklärt, sondern einbringt und an unserer Welt mit arbeitet. Und wir brauchen den Mut und die religiöse Empathie aller, die mit religiösen Welten in Kontakt kommen, dass wir die entsprechenden Bedürfnisse ernst nehmen, sie aber auch auf Ihre Toleranzwerte überprüfen. Die Toleranz kann nicht nur ein Dulden sein. Integration bedeutet Akzeptanz. Weniger sollte nicht das Ziel sein.

Sind wirklich Türen zugeschlagen worden? Wenn sich einmal der Rauch der verbalen Pulverdämpfe verzogen hat, wird sich zeigen, ob wir nur Türen zugedrückt haben, oder ob es auch gelingt, wach- und aufzurütteln und durchaus gemeinsam für den freien Austausch und das Miteinander Neues anzugehen. Keiner der Teilnehmer an den Diskussionen, die ich in den letzten Wochen bestritten habe, hat sich als Muslim offenbart oder eine besondere Nähe zu muslimischen Kreisen offenbart. Wir werden aber genau dies brauchen: Menschen, die Toleranz, ja eben gar Akzeptanz leben und von einander wissen wollen.
Weniger geht nicht. Auch für die vehementen Ablehner der Minarettverbots-Initiative nicht.