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Rückständige Gesellschaften heute. Und morgen?

∞  6 Februar 2013, 17:45

Es schüttelt uns regelmässig angesichts der rückständigen Behandlung von Frauen in traditionellen muslimischen Gesellschaften. “Der Taliban” ist das Synonym für absolute Verknöcherung und archaische Rückständigkeit. Wie wenig lange im relativen geschichtlichen Zeitraffer solche Zeiten auch für unsere Gesellschaft zurück liegen, sind wir uns viel zu wenig bewusst.

Und dann werden wir wieder mal aufgeschreckt: Es ist leicht, über afhanische Verhältnisse den Kopf zu schütteln, aber es ist schon ein bisschen schwieriger, irische Verhältnisse am Ende des letzten Jahrhunderts als absolut fremd abzutun: Heute kann man in der NZZ lesen [1], wie in Irland klösterliche Wäschereien, in denen Frauen zu Zwangsarbeit gezwungen und regelrecht eingekerkert waren, bis 1996 vom Staat mit betrieben und deren Existenz geschützt wurde: Ja, die Polizei brauchte geflohene Frauen selbst in die Wäschereien zurück. Es ist also keine zwanzig Jahre her, dass in Europa ein religiös verbrämtes Gesellschaftssystem Frauen lebenslang versklaven konnte – deren einziger Makel vielleicht war, arm zu sein, aus zerrütteten Verhältnissen zu stammen oder ähnliches mehr, was an sich schon Stigma genug gewesen wäre. Aber nein, die Gesellschaft verlangte es danach, solche Randständige auch institutionell auszugrenzen – oder besser einzugrenzen… und sie die dreckige Wäsche einer sauberen öffentlichen Welt zu waschen…

Der Einwand, die islamischen Kulturen wären in ihrer Zivilisationsgeschichte eben sehr viel jünger als unsere, ist wichtig. Er erleichtert das jeweilige Zusammenleben im Konfliktfall nicht wirklich, aber er schärft unseren Blick für die eigenen Schürfwunden, die wir bei unserer Entwicklung zu einer relativ freien Gesellschaft für Schwächere in Kauf genommen haben. Und schon in zwanzig Jahren wird die Welt nochmals ganz anders aussehen, weil heute die Verflechtungen der verschiedenen sozialen Gemeinschaften viel stärker ist und die wirtschaftlichen Verbindungen dazu führen, dass sich entwickelnde Volkswirtschaften heute sehr viel schneller rasend wachsen können, als dies früher zu Zeiten der industriellen Revolution der Fall war: Der mögliche Aufstieg einer Region führt immer wieder zu einem rasanten Mittelzufluss, zu einer Adaption von Knowhow, und vielleicht sind die Zeiten, in denen mit Afrika ein ganzer Kontinent trotz riesiger eigener Bodenschätze ausgebeutet UND klein gehalten werden konnte, sind vielleicht bald mal vorbei.

Schon vor zwanzig Jahren fiel mir bei einer Reise durch Malysia auf, wie rasend schnell die “Entwicklung” gehen kann, wenn sich Schleusentore öffnen und politische Rahmenbedingungen entsprechend gesteuert werden: Städte wachsen heute rasend schnell, und wenn wir ehrlich sind, dann haben wir auch mit der Vorstellung Schwierigkeiten, dass wir rein wirtschaftlich überholt werden könnten.

Ist es uns ernst mit dem Prinzip gleicher Chancen für alle, so müssen wir mit dieser Angst umgehen, können und sollen uns für Mitsprache- und Menschenrechte in allen Völkern einsetzen, aber wir tun gut daran, immer auch wieder uns zu vergegenwärtigen, wie nahe die Zeiten noch sind, in denen wir selbst es zuliessen, dass ganze Bevölkerungsgruppen (auch der eigenen Ethnie) unten gehalten wurden. Können wir uns über alle Grenzen hinaus darüber verständigen, dass wir keine Welt wollen, in der dies irgend jemandem noch droht, und sind wir bereit, dafür auch Prügel zu riskieren, dann müssen wir, müssten wir vor dem Wandel an sich keine Angst haben. Nur: Wird dieser Wandel dieses Grundbedürfnis der Menschen beachten, oder wird der Kampf um Rohstoffe, Wasser, Nahrung einer, der neue absolute Herrschaften begründet, in denen erstmals die Religion wirklich keine Rolle mehr spielen wird?

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[1] Irlands schmutzige Wäsche – nzz online

Artikel via mycomfor zu Irland – gesellschaftliche und wirtschaftliche Themen

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Bild: istockphoto.com/MHJ