Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Rechtgläubigkeit und Selbstgerechtigkeit

∞  29 Juni 2013, 20:27

Je länger je mehr gilt, dass die Gesellschaft für die Art, wie wir zu leben haben, keine Regeln mehr kennt. Geht es aber um die Frage, welches Leben geboren werden soll oder nicht, oder darum, wann und wie ein Leben sterben darf, dann werden die Diskussionen heftig – bis dogmatisch.

Der Glaube hilft auch mir, Leitplanken für mein Leben zu definieren, und ich denke, dass ich diese Orientierungspunkte in meinem täglichen Leben und in der Zwiesprache mit der Schöpfung ständig auch auf ihre Praktikabilität, ja auf ihre Wahrheit für mein Lebensbild überprüfen kann: Ist das, was ich glaube und nach dem ich mich ausrichte, lebensfähig? Ist es ein Gewand, in das ich reinpasse oder in das mir rein geholfen werden kann? Oder schneidere ich mir dieses Gewand gerade so zu, dass ich mich darin wohl fühle? Wer kann mir sagen, ob ich ein Gott gefallendes Leben führe?

Nun mag es so sein, dass ich mir damit schon viel mehr Gedanken mache als die Mehrzahl meiner Mitmenschen. Wie wir leben sollen, um den Tag zu nützen (und was ein nützlicher Tag ist), wollen uns viele sagen – aber nur wir selbst können darüber befinden, ob wir diesen heutigen Tag so bewusst angegangen sind, als könnte es unser letzter sein. Wir leben nicht nur in der Zeit der Patchworkfamilien; die meisten haben auch ein recht buntes Patchwork für ihr Glaubensgerüst ausgelegt. Dass dabei das Praktikable das Angenehmere und Naheliegendere ist als das schwer zu befolgende Gebot, macht das Patchwork oft noch viel farbiger. Dennoch ist Glaube – jenseits eines einem Happenings mit sich selbst nahe kommenden Lebensgefühls – ein Parameter, an dem ausgerichtet jeder die Tragfähigkeit seines Konstukts ein gutes Stück weit überprüfen kann – denn es gibt sie noch, diese interne Wasserwaage, die genau weiss, ob das eigene Gemüt und die Haltung im Lot sind.

Streng Gläubigen jeder Religion ist dies viel zu wenig. Das WischiWaschi einer Kultur, welche sich jede ätherisch wirkende Kontemplation über das Leben reinzieht wie ein Halbwüchsiger seinen Joint, erscheint ihnen gotteslästerlich. In ihren ehrlich verstandenen Geboten einer rechten Lebensführung sehen sie Gesetzeskraft, und dieser Wahrheitsanspruch, oder nennen wir ihn Gültigkeitsanspruch, verblasst nicht, nur weil man an diesen Geboten leicht scheitern kann.

Und doch: Wie will ich wissen, was die Wahrheit ist? Ich muss glauben, und damit gehe ich einen individuellen Weg. Glaube ist immer persönlich. In unserer Gesellschaft funktioniert eines längst nicht mehr: Dass da vorn einer die Richtung vorgibt. Gibt er ein Beispiel vor, so mag man ihm folgen. Verkündet er Dogmen, so grillt man ihn, sobald seine Bruderschaft offenbart, wie gnadenlos weit das eigene Agieren von der Einhaltung dieser Regeln entfernt bleibt.

Ich wünsche mir durchaus Menschen, die zu ihrem Glauben stehen, auch und gerade zu Regeln. Sie sind niemals einfach so falsch. Sie können pieksen, aber sie fordern uns heraus, für uns selbst zu bestimmen, und vor uns selbst und damit vor unserer Schöpfung und unserem Bild von ihr:
Wie lebe ich denn selbst? Was sind meine Maximen? Und was bedeutet es, wenn ich keine habe?

Wann ein gezeugtes Leben ein Leben ist und was auf das Sterben folgt – nicht nur über Letzteres lässt sich endlos diskutieren, streiten, mutmassen. Klar aber ist, dass der letzte Weg, das Sterben, ein Prozess ist, den wir alle vor uns haben – und ein Weg, den wir gehen müssen. Wer ihn bewusst erlebt, womöglich entscheiden muss oder darf, wie er angegangen werden soll, geht auf einem Weg voraus, zu dem wir selbst noch nicht bereit sind – wie der Springer vom Zehnmeterbrett, der auf dem Weg zum Turm nicht wirklich in der Haut dessen steckt, der gleich springt, mental sich löst, während die Zehen noch Kontakt zum Brett haben. Es dürfte ein Irrglaube sein, anzunehmen, dass man für gewöhnlich “einfach so” stirbt. Wie viel Hilfe man dabei in Anspruch nimmt, welche medizinischen letzten Kriegshandlungen man noch in seinem Körper toben lässt, wann man los lassen kann, welches Mysterium der Schmerz bereit hält – all dies lässt sich dogmatisch überziehen – nirgends ist Strenge so mächtig wie bei der letzten Wahrheit, die keine Kirche beweisen kann.

Wie aber will ich für Gott entscheiden, ob das mir als Patchwork erscheinende Lebens- und Sterbensgerüst eines Angehörigen vor Ihm bestehen kann oder nicht? Womöglich benötigt er für diesen Menschen weit weniger Milde als für meine Rechtschaffenheit, die ich vor meinen Zweifeln her trage wie ein Schild, das mich nicht zum Nachdenken zwingt… Gott sieht die Kämpfe, die ein Mensch austrägt, wenn er gerufen wird oder gehen will. Ob es sich dieser Mensch zu leicht macht oder nicht – wie mag ich das entscheiden? Ich, der ich in meinem Urteil auch vom Egoismus des Verlassenen vernebelt werde. Es geht ganz augenscheinlich nicht (mehr) um mich. Vielleicht ist es nie so sehr um mich gegangen, oder zumindest zuwenig. Aber auch dies ist angesichts der Mächtigkeit des Mysteriums, das vor uns Menschen liegt, nicht entscheidend.

Für unseren eigenen Frieden, soll er uns denn gerade zum Ende hin trösten, ist entscheidend, dass wir unserem Glauben folgen können – und Selbstgerechtigkeit nur noch eine Hülse ist, wie eine vertrocknete Schlangenhaut abgestreift: Die Klarsicht des Sterbenden ist ein anderer Blick auf die Welt als der unsere, die wir noch nicht so weit sehen. Und auf diesem Weg zum Turm gibt es definitiv verschiedene Strategien, wie wir glauben, den Sprung verkraften zu können. Womöglich verlieren wir alle dabei unsere Angst und geht es im Kreislauf von Werden und Vergehen genau nur um dies: Dass die letzten Fragen stehen bleiben und wir doch nicht den Kopf wegdrehen. Dass wir uns einmal im Leben stellen. Oder ein letztes Mal.