Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Olympia und Religion

∞  28 Juli 2012, 10:23

Gedanken zur Eröffnungsfeier in London. Zu jeder solchen Feier. Die englischen Bezeichnungen “celebration” und “ceremony” drücken schon sehr viel aus.

Ein paar Eindrücke aus der Olympia-Eröffnungsfeier, die ich mir gestern aufzeichnete und durch die mich nun nachträglich per Vorlauftaste gekurbelt habe. Selbst so, in einer Art Schnelldurchlauf durch das Wesen dieses Anlasses – und damit durch das Wesen “Mensch” – fühlte ich mich immer wieder an die kürzlichen Diskussionen zur Religion erinnert. Von wegen:

Der Mensch braucht keine Religion.

Er lechzt förmlich danach. Die neuen sakralen Bauten unserer Welt sind die Sportstadien – und praktisch jeder Teil der Zeremonie hat liturgische Züge. Die Feier ist voller symbolischer Handlungen und auf Schritt und Tritt geht es um die Grundmotivation, dass sich eine Gemeinschaft der Welt mit ihrer Identität vorstellt – und damit überzeugen und mitreissen will.

In praktisch jeder Bildsequenz sind euphorisierte Menschen zu sehen. Und es ist ansteckend. Man kann nachempfinden, was es bedeuten kann, in dieses Stadion einzumarschieren. Ja. Marschieren. Wir brauchen das Wort ganz selbstverständlich. Einmarsch der Mannschaften.

Der Mensch braucht Religion.

Er vermisst sie, wenn sie ihm abhanden gekommen ist und sucht Identität in Ersatzhandlungen. Religionen gibt es, weil wir Menschen sind. Wir kommen nicht ohne den Halt einer Zugehörigkeit aus, das Gefühl, unseren Sinn zu kennen. Am Ende ist wohl auch unsere fundamentale Kritik an den Auswüchsen etablierter Religionen in erster Linie Ausdruck einer Frustration und Enttäuschung: Alles Schall und Rauch, Brimborium, Augenwischerei und Manipulation. Da ist sie, die nächste Spiegelfechterei.

Dass der Spuk vorbei geht, es hier ja “nur” um Sport geht, ist kein Gegenargument. Tatsache bleibt die Beobachtung, dass wir uns solche Fokussierungen, die alles Alltägliche ausblenden und uns unter das Dach einer übergeordneten Idee treten lassen, immer wieder erschaffen. Wir haben diese tiefe Sehnsucht in uns, Teil eines grossen Ganzen zu sein und darin unseren Platz und unseren Sinn zu haben.