Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Ohne Identität kein Rückgrat

∞  4 Mai 2013, 08:05

SMS zum Tag:

Sich selber treu bleiben kann nur, wer weiss, wer er ist: Rückgrat wird mir erst dann wichtig, wenn ich eine Identität habe, die ich nicht verlieren will.

Die aufrechten Zeitgenossen sind mir suspekt, die so schnell bei der Hand sind mit Ehre, Stolz und einem “Wir”, unter dem doch jeder was anderes versteht – oder dann etwas sehr Oberflächliches. Wer ich bin, nach welchen Werten ich mich richte, was ich ein-halten kann, wie viel Ehrlichkeit ich fordern mag von meinen Menschen – dies alles muss ich in ein Gleichgewicht mit meinen eigenen Stärken und Schwächen bringen. Und wenn ich dazu noch ein Gefühl dafür finde, wie wichtig mir die Sinnfrage ist, wie ich nach dem Sinn des Lebens fragen mag und in welche Richtung mein Suchen geht – dann entsteht eine Orientierung, ein Leitfaden, der es wert ist, dafür den bequemen Weg zu meiden, Haltung zu zeigen, Meinung zu äussern, Engagement zu zeigen.

Wir haben so viele Ablenkungen geschaffen, dass wir in kompletter Zerstreuung und Ausblendung unserer Endlichkeit gar nie aus unserer Flimmerwelt auftauchen müssen. Wir leiden zwar an unseren Beziehungs-Desastern, aber wir entwickeln die Strategie, dass weniger auch was ist, denn vom Weniger ist immer mehr frei verfügbar. Wer nicht allein sein will, muss es nicht sein, nicht für eine Nacht.

Wir haben eine Welt geschaffen, in der man sich vergessen kann. Und verlieren. Noch nicht mal bemerken muss man es. In dieser Welt braucht es kein Rückgrat. Aber sich finden wird man da auch nicht. Und wenn dann die unvermeidliche Bruchstelle kommt, das Aufwachen, zumindest das momentane, dann handelt und entscheidet man nach den scheinbar billigsten Kosten – oder gar nicht. Irgendwie geht es immer weiter, fremdbestimmt erst recht.

Ich wünsche uns mehr Stolz aus Selbstliebe. Dass wir uns für Zuwenig zu schade sind. Dass wir Wort halten können wollen. Dass wir eine Gemeinschaft, in der auf einander Verlass ist, nicht als Utopie sehen, oder dann zumindest für eine, die unbedingt versucht werden sollte.

Wer keine Enttäuschung mehr riskiert, hat sich die Sinne beschnitten, die Gefühle gekappt und lässt zu, dass Zynismus den Verstand vergiftet.

Bin ich das? Oder ist nicht viel mehr in mir angelegt?

Gibt es einen Baum, der aufhört, Triebe zu bilden, so lange seine Wurzeln Nahrung aufnehmen können, so lange er also Leben in sich hat?