Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Nie mehr wie vor siebzig Jahren?

∞  10 September 2009, 16:40

Roger Köppel hat im Editorial zur Weltwoche 35.09 geschrieben:

… fällt es schwer, sich auszumalen, warum sich hochanständige, gebildete und aus geordneten Verhältnissen stammende Durchschnittsbürger in den Dienst eines mörderischen Roboterstaats unter dem Kommando eines österreichischen Gefreiten stellen konnten.


Lasse ich die pointierten Bemerkungen am Ende auch außer Acht, sie sind ja eher journalistische Rhetorik, so bin ich auch in der Kernaussage nicht so optimistisch. Und ich bin es, genauer gesagt, je länger je weniger.

Ich glaube, dass wir wenig Grund haben, anzunehmen, es gäbe unter uns mehr Moral, als es damals der Fall war. Natürlich ist, wenn kein solches Ungeheuer in unmittelbarer Zukunft zu erkennen ist, leicht anzunehmen, solches wäre überhaupt nicht möglich. Aber bitteschön, was, in unseren ruhigen und stillen Zeiten, in denen eine Weltfinanzkrise für den Grossteil der Menschen etwas ist, was sie gleichgültig zur Seite wischen (können), vermag uns überhaupt annehmen lassen, es könnte etwas Ungeheuerliches geschehen, das tatsächlich Stellungnahmen erfordern würde? In Wahrheit braucht es doch je länger je weniger, um uns den Grund zu liefern, dass uns etwas nichts angeht.

Wovon hier gesprochen wird, das ist nicht zuletzt Zivilcourage. Und die ist am Aussterben. Wenn wir die persönliche Freiheit bedroht sehen, dann durch die Bürokratie oder den Steuervogt. Nicht aber durch unseren mangelnden Gemeinsinn oder eine konkrete Bedrohung. Wir sind sehr viel leichter einzuschüchtern, als dies frühere Generationen waren. Davon bin ich überzeugt. Das Verhalten der Regierung bei Druck aus dem Ausland ist dabei nur das Spiegelbild unserer eigenen Befindlichkeit.

Wir diskutieren über gewalttätige Jugendliche, fordern härtere Massnahmen, griffigere Gesetze. Und beklagen gleichzeitig die Einschränkung der Freiheit durch immer mehr Tempobeschränkungen und schauen weg, wenn wir Zeugen von Sachbeschädigungen oder Belästigungen werden. Wir haben kein Mass und keine Linie. Wir kennen das Gefühl echten Drucks durch politische Bedrohung gar nicht – und wir machen die Not der eigenen Nachbarn oder des Nächsten je länger je weniger zu einer persönlichen Angelegenheit. Wir schauen weg, wann immer wir können.
Es gibt immer jemanden, der zuständig ist. Weit weg.

Deutschland konnte zu Hitlerdeutschland werden, weil sich wirtschaftliche Not durch ein politisches Programm lindern liess, das eine Art Korpsgeist für alle einschloss, die gleich guten Willens waren, wie man meinte. So harmlos begann alles. Mit der steigenden Macht vermehrten und verstärkten sich die Mittel, diese Macht auch einzusetzen, je länger je unverholener. Die meisten Menschen, die in ihrem Innersten anders dachten, sahen sich Gefahren ausgesetzt, spürten und fühlten Druck. Sie würden heute keinen Deut couragierter damit umgehen, im Gegenteil. Daher tun wir sehr, sehr gut daran, den zweiten Weltkrieg und die Verfolgung von Minderheiten nicht als deutsches Problem und die Eigenheit eines Volkscharakters abzutun, sondern zu erkennen, dass hier grundmenschliche (das meine ich ernst) Charakterzüge eine Bahn fanden, auf der sie sich durchsetzen konnten.

Der zweite Weltkrieg und die dazu gehörende Menschenverachtung ist jederzeit und überall wieder möglich. Da bin ich mir ganz sicher.
Bevor der Artikel nun so düster aufhört, habe ich einen Ansatz für mich gefunden, den ich gerne auf den Bildschirm werfe:

Wir müssen hier keine Grundsatzdiskussion starten und darüber fabulieren, ob die Welt nun schlechter oder besser sei als früher. Aber wir könnten uns überlegen, wo wir selbst, jeder an seinem Platz, couragierter auftreten möchten. Manchmal beginnt das ja auch schon damit, dass man nichts sagt, statt etwas Schlechtes. Es geht nicht um die großen Würfe, die Heldentaten. Es geht um Bewusstsein:
Die der menschlichen Güte zugewandten Eigenschaften unseres Wesens brauchen Pflege, Unterstützung und Anwendung. Darin haben wir ein mächtiges Instrument in uns, um oben beschriebene Ungeheuer (und deren Anteil in uns selbst) nicht aufkommen zu lassen. Wenn die kleinen Lebenszellen und -räume Geborgenheit anbieten statt Leere, dann braucht es keinerlei Heilsversprechen. Gute Taten aber braucht es immer. Und positives, auf Anwendung bedachtes Denken.


Und bei Anfangsschwierigkeiten nicht entmutigen lassen: