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Muslime in der Schweiz - eine Zusammenfassung der "Sternstunde Philosophie"

∞  10 Januar 2010, 21:31

Das Gespräch in Sternstunde Philosophie auf SF1, heute um 11h00, war tatsächlich sehr sachlich und darauf angelegt, alle Positionen darzulegen und eine echte Auslegeordnung zu machen.
Selbstverständlich sind in dieser Stunde nicht alle Probleme angesprochen – oder gar diskutiert worden.

Hier gebe ich Zusammenfassung des Gesprächs wieder, auf Grund von Stichworten, die ich mir aufgeschrieben habe. In weiteren Artikeln werde ich mich dann zu offenen Fragen äussern – oder gerne auch Ihre Kommentare aufnehmen:

Gesprächsteilnehmer:
Pfr. Thomas Wipf, Präsident des Rates des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK
Dr. Hisham Maizar, Präsident der Föderation Islamischer Dachorganisationen in der Schweiz (FIDS)
Frau Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements EJPD
Gesprächsleitung: Norbert Bischofberger

1)
Hisham Maizar sagte einleitend, dass “wir Muslime” sich sehr wohl als Teil der Schweizer Gesellschaft fühlten und nun um die Wiedergewinnung eines Vertrauensgefühls würden ringen müssen.
2)
Frau Bundesrätin Widmer-Schlumpf betonte den Umstand, dass diese Abstimmung zu einer Werte-Debatte führen würde, welche endlich die Schweizer selbst sich mal fragen liesse, welche Werte denn für sie wirklich zentral wären (und für die entsprechend eindeutig eingetreten werden soll).
3)
Hisham Maizar wies darauf hin, dass Minarette nirgends im Koran erwähnt werden, sie aber seit Jahrhunderten zur kulturellen Identität der Muslime gehören würden.
4)
Die Spekulationen, was allfällige Rechtshändel beim europäischen Gerichtshof für Konsequenzen haben könnten, wurden relativ kurz gehalten. Klar ist, dass auch der Beitritt der Schweiz zum Europarat und zur EMRK ein Volkswille war, der dann auch zu beachten wäre [und deshalb die Schweiz nicht einfach so die EMRK aufkündigen würde, wie es Teile der SVP schon vorausgedacht haben, Th.] Quintessenz: Alles sind Fragen in einem demokratischen Prozess, und dieser läuft weiter.
5)
Thomas Wipf wird von allen in der Meinung bestätigt, dass es nun darum geht, in der Schweiz selbst pragmatische Lösungen zu suchen – und diesen Prozess nicht durch Drohungen eines Rekurses nach Strassburg, der eh erst in mehreren Jahren möglich wäre, zu behindern [oder zu vergiften? – Th.]. Selbst Herr Maizar meint, dass sich das in Wil von ihm mit begleitete Gesuch für ein islamisches Zentrum nach dem geltenden Recht richten müsse, und das bedeute nun eben, Eingabe ohne Minarett.
6)
Wipf fordert die Schweizer Muslime dazu auf, sich dezidiert zu den Menschenrechten zu bekennen. Erklärungen von Muslim-Gemeinschaften im Ausland (sog. Kairoerklärung ) wären da problematisch und müssten von den Schweizer Muslimen zurecht gerückt werden. Maizar entgegnet, dass die Menschenrechte sehr wohl auch islamisches Gedankengut wären, und dass man dahin kommen müsse, die Unterschiede nur in der Art und Weise ihrer Anwendung zu sehen – die Grundwerte aber wären als übereinstimmend zu betrachten.
7)
Daraufhin steht die Frage wieder im Raum: Wie denken Schweizer Muslime über die Religionsfreiheit in muslimischen Staaten und über die Schweizer Grundwerte?
8)
Alle am Tisch fordern “mehr Ordnung im islamischen Haus der Schweiz”. So führt die Eidgenossenschaft schon länger Gespräche an einem runden Tisch mit Glaubensgemeinschaften monotheistischer Religionen, und Frau Widmer-Schlumpf betont die Schwierigkeit, dass es auf muslimischer Seite drei grundsätzlich verschiedene Richtungen gibt:
Eine extrem offene, sehr moderne Richtung, in der übrigens sehr viele sehr freie Muslime explizit für ein Verbot von Minaretten waren, eine gemässigt religiöse Richtung, zu der Herr Maizar zu zählen ist, sowie eine sehr konservative, verschlossene Fraktion, die aber sehr klein sein soll.
Dabei betont Frau Widmer-Schlumpf, dass zu diesem Dialog auch der Austausch mit nicht-religiösen Bürgern ganz wichtig ist.
In allen diesen Dialogen ist ganz klar, dass der Staat das rechtliche Primat hat.
9)
Hisham Maizar definiert selbst Integration mit mehr als nur Anpassung: Für ihn gehört dazu der aktive Beitrag zur “Befestigung des gültigen Systems”.
10)
Aufgabe des Staates kann es nicht sein, die Vereinigung der Gemeinschaften aktiv zu betreiben – er kann aber nur Gemeinschaften unterstützen, die sich nicht gegenseitig ausschliessen und man kann von ihm die Gleichbehandlung solcher Gemeinschaften verlangen.
Thomas Wipf weist darauf hin, dass der Staat nicht der Hüter der Religionen ist, sondern des freien Gestaltungsraums, in dem Religionen gelebt werden können.
11)
Integration ist ein langer Prozess. Jüdische Gemeinschaften brauchten 200 Jahre, um wirklich das Gefühl zu haben, akzeptiert zu sein.
12)
Die fordernden Ansprüche vieler Muslime nach dem Selbstverständnis ihrer kulturell-religiösen Identität dürfen die Respektierung unserer Grundwerte in keiner Weise einschränken. Dazu gehört das gleiche Bildungsrecht für Mädchen und Buben – in allen Bereichen.
13)
Die Integration ist nicht gescheitert. Sie ist auch nicht nur eine religiöse Frage und wird erst seit zwanzig Jahren diskutiert. In einem solchen Zeitraum kann so ein Prozess gar nicht abgeschlossen sein.
14)
Thomas Wipf fordert den Grundkonsens ein, der hergestellt werden muss in Fragen der Wahrheit [Umgang mit anderen monotheistischen Religionen, Th.], des Rechtsstaates, des Pluralismus, zwischen den Geschlechtern. Hierzu braucht es die Mitwirkung aller. Aber auch der Muslime.
15)
Maizar fragt nach dem freien Raum zur Äusserung für Muslime und wünscht sich daraus die öffentlich rechtliche Anerkennung des Islam, vergleichbar mit den anerkannten Landeskirchen. Dazu verweist Widmer-Schlumpf darauf, dass der Bund nur die Regel vorgibt, dass das Primat des Staates akzeptiert werden muss, die konkrete Entscheidung aber Sache der Kantone ist.
16)
Der Staat an sich ist immer wertneutral. Die Werte kommen von den Bürgern. Entsprechend weit gefasst wird auch das Initiativrecht.
17)
Internationale Reaktionen zeigen nach einem ersten Erschrecken, dass die Schweiz ein Thema öffentlich macht, das ganz Europa etwas angeht. Entscheidend ist jetzt, was daraus gemacht wird, wie weiter diskutiert wird – und damit Demokratie lebendig gelebt wird. Das Einstehen für die humanitären Traditionen wird in diesem Prozess auch weitergehen und von grossen Teilen der Bevölkerung getragen werden.


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Wiederholungen der Sternstunde Philosophie:
Montag, 11. Januar 2010 um 02.50 Uhr auf SF1
Dienstag, 12. Januar 2010 um 12.00 Uhr auf SFinfo
Mittwoch, 13. Januar 2010 um 04.30 Uhr auf SF1
Samstag, 16. Januar 2010 um 08.55 Uhr auf SF1
Sonntag, 17. Januar 2010 um 09.15 Uhr auf 3sat
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