Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Mehr Demokratie, aber wie?

∞  26 September 2010, 20:24

Stuttgart 21 – ein Bahnhof-Bauprojekt bringt die Leute auf die Strasse. In Berlin demonstrieren Zehntausende gegen Betriebsverlängerungen von Atomkraftwerken. Bürger lassen sich wieder für politische Themen mobilisieren, nachdem zuerst nur darüber zu hadern war, wie unfassbar viele die Bücherläden stürmen, um Sarrazins Buch zu kaufen und da zu lesen, dass sie, die Deutschen, im Begriff wären, sich selbst abzuschaffen. Gross war die mediale Schelte, “das Volk” liesse sich instumentalisieren.
Aber: Vielleicht entdekct Deutschland die Bewusstmachungsdebatte über das Wesen der Demokratie. Zumindest wenn man die mediale Begleitung der Wochenzeitung “Die Zeit” verfolgt: Die oben erwähnten Beispiele werden zum Anlass genommen, die ursprüngliche mediale Empörung über das Machwerk Sarrazins in eine Energie umzuleiten, die tieferes Nachfragen zulässt:
Was läuft schief im normalen Medien- und Politikbetrieb in Deutschland? Wie weit haben sich repräsentative Demokratien ganz generell von ihren Bürgern entfernt? Plötzlich wird nach mehr Mitbestimmung gefragt, regen sich Bürgerinitiativen, wird über lokale oder regionale Abstimmungen nachgedacht.

Und daneben gibt es Stimmen, welche sich laut entsetzen können ob des Gedankens, Bürger könnten z.B. über Steuersätze und -systeme befragt werden. Völlig undenkbar so was, und in der Reaktion verständlich, wenn auch nicht für uns:
Wenn wir das in der Schweiz verfolgen, wird uns bewusst, wie grundsätzlich anders unsere direkte Demokratie funktioniert. Am Beispiel eines Projekts wie Stuttgart 21 lässt sich das wunderbar illustrieren:

In der Schweiz wäre schon der Planungskredit nur über eine Volksabstimmung zu bewilligen gewesen. Jeder Ausbauschritt, jede weitere Konkretisierung hätte sich innerhalb eines vom Volk in einem politischen Willensprozess gesprochenen Kredits bewegt. Das macht nicht nur das Bauen mühsam. Es macht fast alles mühsam. Weil immer wieder nach Kompromissen, Lösungen gesucht werden muss – und stets Überzeugungsarbeit zu leisten ist. Der scheinbar dumme Bürger ist der einzige, der da ist. Und in der Auseinandersetzung mit ihm lernt man Demut – und erfährt unter Umständen schnell, dass die so überzeugenden eigenen Argumente nur so gut sind, wie sie eben wirklich überzeugen können. Dabei muss – je nach Thema – mit diffusen Ängsten umgegangen werden. Manchmal mögen auch die abwehrenden Reflexe schnell auftauchen. In aller Regel aber hält sich so mancher aus Debatten auch raus, wenn er von ihnen nichts versteht. Und findet es durchaus sinnvoll, wenn für die Kehrichtverbrennung neues Geld gesprochen werden muss, oder für den Ausbau eines Spitals, oder…

Dadurch, dass der Bürger gefragt wird, beginnt er zu gestalten, begreift sich als Teil des Ganzen. Die wenigsten foutieren sich um alles. Sie leisten ja auch eine Arbeit gegen Lohn. Genau so wollen sie aber auch als Bürger ernst genommen werden.

Das ganze Prozedere birgt für Riesenprojekte mit mehreren Planungsstufen grosse Risiken. So ist die frühere Umfahrungsautobahn um Zürich an genau diesem Prozedere gescheitert. Der Vorteil aber bleibt: Am Schluss hat es das Volk entschieden. Und private Auftragsnehmer in solchen Projekten kennen die Risiken, bzw. bekommen nur Verträge, die den einzelnen Etappen angepasst sind – und wenn das nicht möglich ist, muss eben für nichts bezahlt werden.
In einer repräsentativen Demokratie ist das mit angefangenen Projekten ein wenig komplizierter. Es handelt sich dabei in aller Regel um Vorhaben, die im Rahmen eines Regierungs- und Gestaltungsauftrags angestossen wurden. Und so, wie sich repräsentative Politik und Demokratie versteht, ist dann eben der Handlungsspielraum dafür auch viel grösser – und ein Verzicht auf eine Fertigstellung problematisch. Teilweise muss sich da der Bürger, geht er schlussendlich auf die Strasse, die Frage gefallen lassen: Warum nicht früher? Und hier könnte der Ansatz für mehr bürgernahe Demokratie liegen: Dass man sich auf politischer Seite früher nach dem Bürger erkundigt, ohne freilich nur auf Populismus zu machen.

Derweil stimmen wir in der Schweiz weiter über Fragen wie einen Ausbau der S-Bahn Zürich-Winterthur auf durchgängig vier Spuren ab (nein) oder über eine Erhöhung der Arbeitslosenkassenbeiträge für alle und noch ein bisschen mehr für Vielverdienende, bei gleichzeitiger Senkung von Leistungen für Einzelne (ja). Das Ergebnis ist oft ein persönlicher Ärger, aber die Minderheit wird nie stumm gemacht. Sie wird wieder gefragt werden müssen.

Wie man es macht: Es ist mühsam. Wie immer, wenn eine Gruppe sich finden, einigen oder entscheiden muss. Aber es schadet nichts, sich an die Basis zu begeben und die Menschen auch in diffusen Ängsten ernst zu nehmen. Niemand wünscht sich nämlich, im Unbehagen zu verharren. Das ist die Chance, die im Kern immer bestehen bleibt. Und nichts fördert Gemeinschaft so sehr wie die Erfahrung, auch als Minderheit ernst genommen zu werden. In einer repräsentativen Demokratie geht diese Minderheit gerne in der Ignoranz der Regierenden unter. Aber dies ist nun wirklich die sehr subjektive Ansicht eines Beobachters aus der Ferne.