Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Marcello sieht die Aussicht nicht mehr

∞  10 November 2010, 17:26

Ich habe die erste OP hinter mir, eine zweit kurz vor mir. Eingriffe, die Routine sind. Und das ist nicht einfach nur zur Beruhigung daher gesagt, es ist so. Mein Genesungsprogramm sah und sieht vor, dass ich danach jeweils schnell wieder in den Alltag finde.

Und ich habe bei meinem ersten Besuch Freundschaft mit einem Zimmergenossen geschlossen.
Ich möchte, dass wir uns hier beim Schreiben und Lesen einen Moment gedanklich ihm widmen:
Als ich mein Zimmer bezog und zu seinem Nachbarn wurde, lag Marcello schon zwei Wochen da. Er hatte eine ganz andere, eine wirklich kritische OP hinter sich und eine schmerzhafte neue Wundpflege jeden Tag vor sich. Vierzehn Tage später bin ich längst wieder zu Hause. Ich besuche ihn mehrmals pro Woche. Wir telefonieren. Nächsten Freitag beginnt die Bestrahlung. Marcello ist einer, der immer das Leid und die Bedürfnisse der anderen sieht. Dass er dabei ausgenutzt wird, weiss er, aber es ist seine Art, sagt er. Er wird sich nicht ändern, aber er will besser zu sich selbst sehen, wenn es sonst auch niemand tut. Vielleicht erkennt er so, dass es tatsächlich Menschen gibt, die ihm gerne selbst einmal zur Hand gehen. Er muss sie nur lassen.

Aber dafür, Herrschaft nochmals, müsste er endlich mal aus dem Spital raus kommen.
Er schaut aus dem Fenster. Heute würde er der Aussicht nichts abgewöhnen können. Selbst dann nicht, wenn der Blick auf die Voralpen klar wäre. Der Blick aus dem Fenster ist ein Blick aus dem Gefängnis, die Sonne, wenn sie scheint, mehr Hohn als Trost.
Die zweite Geschwulst wächst weiter. Marcello weiss, was es bedeuten kann. Das Gleiche nochmals. Ein weiterer Monat Krankenhausaufenthalt. Er beginnt, mehr vom Geschäft zu reden. Nun ist es nicht mehr die Traurigkeit, dass von den Kollegen kaum etwas zu hören ist, vom Chef schon gar nicht. Jetzt ist Unruhe zu hören, Unsicherheit. Was ist, wenn ich nochmals einen Monat ausfalle?

Ich möchte ihm zurufen: Hey, ein so feiner Kerl wie du ist mit 58 nicht am Ende des Weges angelangt. Und ich glaube auch an diese Aufmunterung. Aber ich weiss nicht, ob ich recht habe. “Recht” kann man in diesen Fragen nicht haben. Aber ich wünsche mir mit jeder Faser meines Gemüts und mit allen meinen Empfindungen, dass Marcello bald, sehr bald nicht aus diesem Fenster auf die Alpen blickt, sondern vom Panoramaweg aus, beim nahen Waldrand. Notfalls werde ich ihn entführen. Jawoll! Also, nur halbwegs. Sie mögen ihn alle im Spital, die Pflegenden, und das ist kein Wunder. Er ist um jede kleine Hilfreichung dankbar und hat für alle Gestressten ein aufmunterndes Wort. Es ist, als kämen die Pflegefachleute ins Zimmer, um ein wenig Energie zu tanken. Sie werden beide Augen zudrücken und uns eine Flucht gönnen.
Jaaah, Marcello, wenn Du noch länger da bist, dann führe ich Dich spazieren. Du sagst, wohin. Ich nehme das Auto mit. Ein Tag mit Chauffeur, ganz für Dich. Denn auch ich möchte ein wenig zurückzahlen von dem, was ich empfangen durfte.
Und wir alle, die hier von Dir lesen und an Dich denken, versprechen Dir eines: Wenn wir das nächste Mal an einer Spitalfassade hoch blicken, werden wir an Menschen wie Dich denken, denen die Aussicht oft keine Aussicht mehr sein mag – und wir versprechen Dir, dass wir das Leben so leben wollen, wie Du es noch so gerne selber tun würdest.