Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Mach mal weiter Sudoku

∞  11 Februar 2010, 18:53

Ich gehöre zu den altmodischen Snobs, die in IC-Zügen nach Deutschland mit dem Ticket auch eine Platzreservation kaufen. Die CHF 5.00 ist mir diese Bequemlichkeit, einen garantierten Sitzplatz zu haben, und zwar einen, den ich von A nach B auch dauerhaft behalten kann, eindeutig wert.

Manchmal bekommt man – so als Gratis-Supplement – dafür besondere Dialoge geschenkt.

Ich steige also in Zürich in den Zug, suche mir im richtigen Wagen den richtigen Platz – und bin dann wieder mal froh, dass ich die Eigenart habe, mir solche Eckdaten menschlicher Orientierung in ziviler Umgebung zuvor gut einzuprägen:
Mein Platz ist in der Mitte des Wagons an der Rückwand zur Sektion mit den 6er-Abteilen, und ich habe bewusst Mittelgang gewählt, damit ich meine Beine besser strecken und aufstehen kann, wann immer mir danach ist. Auf meinem Platz sitzt ein etwa 35-jähriger, grosser Mann mit einer sehr dicken Anorak-Jacke, die er aus unerfindlichen Gründen auch nicht ausgezogen hat, obwohl hier geheizt ist.
“Kommen Sie hierher?”
“Ja, Sie sitzen auf meinem Platz, aber Sie können fast sitzen bleiben. Sie müssten einfach zum Fenster rutschen.”
Er verdreht den Hals, als er demonstrativ zur Digitalanzeige linst, um mir zu bedeuten, dass da nichts von einer Reservation angezeigt ist. Erst ab Frankfurt. Platz 76 UND Platz 78.
“Ich sehe, was Sie sehen, aber ich habe trotzdem reserviert, von Zürich bis Frankfurt, Platz 78.” Ich warte nur darauf, dass er den Job des Zugbegleiters übernimmt und kontrollieren will, aber das lässt er dann doch bleiben. Er meint nur noch:

“Geht denn Reservation von der Schweiz aus überhaupt?”
“Ja, stellen Sie sich vor, das kennen wir auch schon.”

Es ist ein unerquickliches Gespräch, wir werden aneinander nicht richtig froh, aber die asoziale Unwilligkeit zu jedem Anstand hockt tief in diesem Kerl, und vielleicht bauscht sich sein Anorak deswegen so stark, dass meine rechte Seite die ganze Fahrt über gewärmt wird. Er löst Sudokus, oder versucht es zumindest, und weiter nimmt er nichts wahr. Die unter dem Hochnebel konturlos gräulich verfärbte Schneelandschaft vor dem Fenster und hinter diesem Typen vermag mich auch nicht zu erbauen. Also lese ich Zeitung.

Ab Freiburg ist es eine schöne Bahnfahrt. Mein Nachbar ist nun ein junger Bursche, der ein hochinteressant ausschauendes Buch liest, das so alt zu sein scheint, dass es aus einem Antiquariat stammen könnte. Der Mann liest konzentriert und ist dabei so freundlich, sich überhaupt nicht zu stören daran, dass mir zwei Mal etwas runter fällt, das er mir dann mit einem Lächeln aufhebt, als würde er sich über die Störung freuen. Dann liest er weiter und wir sitzen ganz zufrieden neben einander. Zug fahren kann so schön sein. Sudoku lösen sicher auch. Zumindest für die Nachbarn.