Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Lebenshilfe aus dem Altersheim

∞  9 September 2010, 22:54

Ein Besuch im Altersheim, wie er so vielen anderen gleichen dürfte… Das gilt aber nicht nur für die Menschen, die in Stühlen im Gang hocken oder wenigstens unter einer Laube, in sich zusammen gefallen, abwesend, als könnte man darauf warten, dass sie irgendwann einfach auch noch zu atmen vergessen werden.

Es hat auch Geltung für kleine Aufmerksamkeiten, die mit kindlicher Freude erlebt werden und die einfach ansteckend sind. Da ist die Bedienung in der Cafeteria, eine Frau mit Bubihaarschopf und dunklen, aber blitzenden Augen. Sie hantiert an der Kaffeemaschine mit weit ausladenden Bewegungen, und die Eingabe einer Konsumation in die Registrierkasse, stellt schon eine ziemliche Herausforderung dar, wenn sie ein ganzes Serviertablett füllt. Aber hier treffen sich Menschen, die ein bisschen besser rechnen können sollten mit solchen, die eh alles gerne selber nachrechnen, und wenn man ein wenig in die Welt hinab steigt, in der ein Tag wie der andere ist, wird es ein Leichtes, etwas Geduld zu haben und zu akzeptieren, dass die Bestellung für zwei Kaffees und zwei Stück Kuchen runde 10 Minuten in Anspruch nehmen kann. Die Dame ist die Freundlichkeit in Person, und ich höre danach, dass sie einen wunderbaren Charakter habe: “Sie ist die einzige, welche auch mal einen eigenen Fehler zugeben kann – und die immer mit guter Laune zur Arbeit kommt und ihren Dienst verrichtet.”
Den Dienst für die Bewohner. Nicht an den Bewohnern. Das füge ich hier noch an.

Es ist klar, dass die Frau selbst ein gewisses Aufmerksamkeitsdefizit hat, eine schmale Behinderung vielleicht, und es ist möglich, dass es ihre bittere Lebenserfahrung ist, sich häufiger als andere entschuldigen zu müssen. Doch einen Fehler zu machen, ist für sie ganz offensichtlich keine Schande. Sie scheint zu wissen, ganz für sich, dass es eine Leistung darstellt, den nächsten Fehler später zu machen – oder die Tasse Kaffee eben mit Wärme zu überreichen. Wobei dies für sie bestimmt keine Leistung ist, sondern eine Selbstverständlichkeit. Seit zwanzig Jahren. So lange arbeitet sie da schon!

Ich ziehe mir also meine Kaffeetasse mit dem schäumenden herrlichen Espresso unter dem Ausguss der Kaffeemaschine selbst hervor, weil die Frau vorschnell zum nächsten Tisch vor dem Tresen entschwebt ist, lächle in mich hinein und geniesse draussen unter der Platane jeden einzelnen Schluck.

Mit meiner Mutter wandere ich über den Friedhof, auf dem Vater begraben liegt. Seine letzte Ruhe ist einer der schönsten Plätze, die ich dafür kenne. Seit siebzehn Jahren ist meine Mam allein. Ich bin meiner Mutter dankbar, dass sie mich hierher geschleppt hat. Ich bin viel zu selten da, weil ich längst nicht mehr in meiner Heimatgemeinde wohne. Aber es ist schön, hier zu sein und ganz neu zu begreifen, dass nicht nur der Friedhof, nein, dass dieses Dorf ein guter Ort war, um die Jugend auszukosten. Ich durfte Kind sein. Im Haus und draussen erst recht. Ich hatte vernünftige bis sehr gute Lehrer. Und dann überrascht mich meine Mutter mit einem kurzen Ausflugtipp. Wir gehen zum See, in einen Park, der einem anderen Altersheim angegliedert ist. Das Heim ist privat geführt, der Park aber öffentlich, und wir wandern im Spätsommerlicht durch eine märchenhafte Baumlandschaft mit Bänken und Seerosenteich und, vor allem, mit wunderbaren, mächtigen Bäumen.
Und mitten drin meine Mutter, die mit kindlicher Freude sich über jede ein wenig krumme Biegung eines Stammes wundern und sich freuen kann, die den Bäumen hinauf ihren Blick in die Kronen folgen lässt und die Höhe der Bäume bewundert. Ich fühle mich sehr wohl, und lerne von meiner Mutter, deren Augen immer schlechter werden, was Sehen eigentlich bedeuten würde.

Es ist ein Tag der Lehre für mein aktives Leben. Auch dafür kann man mal ins Altersheim gehen.