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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Leadership aus den USA, aber diesmal substanziell?

∞  6 November 2008, 22:03

Amerika hat gewählt. Diesmal haben sie wirklich gewählt, die Amerikaner. Haben sie sich vor acht Jahren noch auszählen lassen und den Mann, der sie so manipulierte, vier Jahre später dafür auch noch belohnt, so dass man ihnen nachrufen könnte: “Selber schuld”, so ist einem nun gar nicht mehr ums Keifen zumute. Das hat damit zu tun, dass wir unsererseits durchaus selbst im Schlamassel stecken, denn irgendwie haben wir ja alle mitgemacht im Wahn, das Geld liege auf der Strasse, oder an der Börse (und müssten wir dafür auch Schulden machen, so ist das doch egal).


Aber gratis ist nichts. Das erleben wir jetzt.
Und was passiert? In diese erschütterte Hybris hinein platzt eine Gestalt, deren Charisma es tatsächlich fertig bringt, dass Amerika den Wandel wählt. Das Wagnis. Da tritt einer an, der vereinen will, was eigentlich doch wirklich zusammen gehört. Er ist ein charismatischer Redner, aber ganz offensichtlich auch ein hart arbeitender Politiker mit einem organisatorischen Talent. Und er will zuhören. Sagt er. In der Tat sind jene Bilder dieses Mannes am Stärksten, auf denen er abseits der Veranstaltungen gezeigt wird, in den Momenten davor oder danach, zwischen den Stühlen.
Sieben Jahre nach 9/11, nach einer beispiellosen Intrigen- und Hetzkampagne der Administration Bush-Cheney-Rumsfeld, die den Irak-Feldzug lostrat, wird der Sohn eines schwarzen Kenianers mit dem Namen Barack Hussein Obama der 44. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Es ist vor allem auch die Wahl des jungen Amerika. Noch nie haben sich so viele junge Amerikaner dazu bewegen lassen, auch zu wählen. Und nicht nur das. Sie haben sich in unzähligen kleinen und grösseren Einheiten engagiert und andere mobilisiert, das gleiche zu tun. Und nun stehen sie kurz vor Mitternacht in Chicago, mit 75’000 anderen, und jubeln dem jugendlich wirkenden Hoffnungsträger zu.
Sein Auftritt ist beeindruckend ruhig. Seine Gestik wirkt zurückhaltend, sein Gesicht zeigt Freude, aber auch gemessenen Ernst. Was liegt alles hinter ihm – aber was liegt vor allem vor ihm! Zwei Jahre hat der Kampf ums weisse Haus gedauert, Hillary Clinton und John McCain haben Obama alles abverlangt – und ihm am Ende in der Niederlage mit Fairness gratuliert.

Bestimmt ist er an einem Scheitelpunkt angelangt, an dem der Körper vor Erschöpfung zusammen brechen könnte: In der Erlösung, das grosse Ziel erreicht zu haben, doch einfach mal die Seele baumeln lassen. Doch es ist dafür keine Zeit. Obama wirkt so, als wollte er jede Minute nützen, immer wissen, was als nächstes zu tun sei. Er soll ein äusserst disziplinierter Arbeiter sein, heisst es. Wahrscheinlich bringt man es ohne diese Eigenschaft mit dieser Herkunft nicht an eine amerikanische Eliteuniversität, und schon gar nicht ins weisse Haus.

Und unten stehen seine Wähler und feiern ihn. Aber es wird kaum geschrien. Sie hängen eher gebannt an seinen Lippen, fast andächtig im Bewusstsein, einen ausserordentlichen Moment zu erleben. Die Menschen lechzen geradezu nach Authentizität, nach einer Führungspersönlichkeit, der sie vertrauen können. Die Bilder der oft jungen Menschen, die Schulter an Schulter zu ihm aufsehen, Latinos, Schwarze und Weisse frei durcheinander gemischt, werde ich so schnell nicht vergessen. Die Jugend ist nicht nur in Amerika die Zukunft der Welt. Aber in den USA hat sie dafür ein ganz neues Bewusstsein entwickelt.

Dieser gut aussehende, junge Präsident mag eine Vision für ein besseres Verständnis der Ethnien und Völker für einander haben, aber er wird stets die Interessen seines Landes ins Zentrum stellen. Wie jeder Präsident vor ihm und neben ihm auch. Aber er wird es mit einer von ihm erneuerten Partei im Rücken tun und mit jenem Teil der Identität des amerikanischen Volkes, der sich in den letzten acht Jahren häufig vor Scham still in sich zurück zog.
Die Begeisterung wird der Ernüchterung weichen, wenn nicht alles sich so leicht zum Besseren wandelt. Die Zeiten werden härter werden. Und die Kriege in Irak und vor allem Afghanistan werden eine schwere Belastungsprobe darstellen. Sie sind nicht so leicht zu beenden (Irak) oder zu gewinnen (Afghanistan), wie sich viele wünschen. Und genau so zäh wird der Kampf gegen die Rezession werden.

Und dennoch wird in allen Schwierigkeiten das Charisma Obamas, wenn es sich denn erhält, auch inspirierend wirken. Denn tatsächlich können Menschen alles zerstören, was ihnen heilig sein sollte. Sie verfügen aber auch über die Fähigkeit, Besonnenheit zurück zu gewinnen und mit enormer Energie Rückschläge und Schwierigkeiten zu überwinden.

Bush hat von der Führungsstärke der USA gesprochen, hat sie beschworen, für sich und die USA reklamiert. Obama könnte sie vorleben und damit einen Karren anschieben, an dem in der Folge auch Europa mitziehen könnte. Wir werden sehen, wie viele bittere Pillen dafür gegenseitig geschluckt werden müssten, und ob der Westen und damit wir alle dazu bereit sein werden.


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Leadership muss kein leeres Wort sein