Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Jetzt geht es um die Opfer - Kirchenbashing ist später

∞  20 März 2010, 19:54

Die Lawine ist los getreten, und sie wird noch gehörig Fahrt aufnehmen. In den letzten dreissig, vierzig Jahren begangene Übergriffe an Kindern in Betreuungs-, Erziehungs- und Schul-Einrichtungen der katholischen Kirche kommen tropfenweise ans Licht.

Die Ballung lässt einen nach Luft schnappen, mögen die Fälle auch an verschiedensten Orten zu verschiedensten Zeiten geschehen sein. Das Vertrauen in die Institutionen der katholischen Kirche ist nachhaltig beschädigt, das Ausmass noch in keiner Weise zu bestimmen. Zu beobachten ist nun, dass in unzähligen redaktionellen Beiträgen und in vielen Talksendungen grundsätzliche Debatten über den Zölibat etc. geführt werden. Mit Verlaub: Dafür ist später noch viel Zeit. Jetzt, wo die Opfer Mut fassen und zu erzählen beginnen, ist etwas anderes viel wichtiger: Es ist jedes scharfe Augenmerk darauf zu richten, dass die nun zum Vorschein kommenden Erlebnisse weder vertuscht noch sonst wie bagatellisiert werden. Und dabei stehen vor allem die Kirchenführer in der Pflicht und Verantwortung. Von ihnen ist eine radikale Änderung der bisher oft üblichen Praxis zu verlangen, denn das Krisenmanagement hat allzu oft aus reiner Vertuschung bestanden – und DIESE Kräfte sind jene, die am allerdeutlichsten zu verurteilen sind, denn an diesen Stellen haben Menschen ohne entsprechende Neigungen, aber ganz offensichtlich ohne die notwendige Empathie für die Notlage von vertrauensseligen Menschen hierarchisch und kirchenpolitisch Entscheidungen getroffen – und in der Folge noch nicht einmal verhindert, dass Pädophile nicht mehr in kritischen Funktionen eingesetzt wurden. Die Kirche muss ihre Verantwortung wahrnehmen, die Täter sich verantworten lassen. Niemand verlangt, dass sie ihre fehlbaren Mitglieder verdammt. Sie kann ihr Postulat einer stets zur Vergebung bereiten Seelsorge weiterhin auch auf Täter anwenden, aber sie muss die Rechtssprechung und Aufklärung ohne Zögern offen legen und in polizeiliche Hände geben. Und sich auch zur Orientierung der eigenen Lehrkräfte unmissverständlich und mit Tatbeweisen auf die Seite der Opfer stellen.

Die Schweizer Katholische Kirche, allen voran der Abt von Einsiedeln, Martin Werlen, haben früh eine recht offensive Strategie und Öffentlichkeitsarbeit betrieben – sie wird sich daran messen lassen müssen. Aber ganz offensichtlich hat sie erkannt, wie elementar gefährdet die eigenen Institution nun ist. Das würde bedeuten, dass deren Würdenträger noch nicht so weit von der Basis entrückt sind, dass sie diese Zeichen nicht (endlich) richtig deuten können. Und wer weiss? Vielleicht sind die inneren Umbrüche, die folgen werden, eine Basis für weitere Veränderungen. Aber zuerst geht es nun darum, an den konkreten Fällen dran zu bleiben und laufend zu prüfen, wie damit in der Kirche umgegangen wird.

Grundsätzliche Fragen zur Schädlichkeit oder Verwerflichkeit von Religion und Kirche, insbesondere der katholischen, wie sie Beda Stadler wieder einmal mit Verve und viel Rhetorik gestern in der Talk-Sendung “Nachtcafé” im SWR vom Stapel gelassen hat, schaden in der momentanen Situation mehr als sie nützen:

Jetzt geht es darum, jene Kirchenvertreter zu stärken, welche den Mut haben, sich auf die Seite der Opfer zu stellen. Und selbst die grössten Kirchenkritiker sollten nun nicht indirekt das Leid der Opfer dazu benützen, daraus Politik zu machen. Nun muss es endlich einmal einzig und allein um die Missbrauchten gehen. Und wer und wem auch immer ihre Geschichte bekannt wird, sollte auch dann erst einmal bei diesen Menschen bleiben und dafür sorgen, dass sie ernst genommen werden.