Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Jahrestag eines Abschieds

∞  7 Juli 2014, 20:43


istockphoto.com/Devonyu

Noch zwei Stunden ist es hin – dann hat sich der Moment zum ersten Mal gejährt, als ich auf der Fähre stand, auf dem Heimweg vom Sterbebett meiner Mutter. Es war eine ruhig aufziehende Nacht, mit einer frischen Bise, die nicht nur von der Gischt und vom Fahrtwind der Fähre stammte, und ich fühlte den Wind im Gesicht, zog mir die Jacke zu und fragte mich, eingehüllt in die immer tiefgründigere innere Stille des langen Abschieds, dem diese Woche gewidmet war, ob es richtig war, jetzt hier zu stehen und nicht am Bett geblieben zu sein. Es war nur ein kurzer Moment der Panik, dem eine um so grössere Ruhe folgte. Ich wiederholte mir, unter welchem Sinn diese Woche für mich von Anfang an gestanden hatte, und ich sagte es mir so klar vor wie noch nie zuvor:

Meine schöne Aufgabe war es, sie gehen zu lassen und alles dafür zu tun, dass sie genau das tun konnte, was mich eben nicht mehr verletzen musste: Gehen zu dürfen. Sie hatte, wie unzählige Male zuvor, auch in diesem Fall für sich entschieden, ohne zu fragen. Eigenmächtig, eigennützig, selbstherrlich. Ja, das konnte ich alles so benennen, wenn ich es denn aus meiner Warte tun wollte. Aber in diesem Fall sah ich in ihrem Willen auch die Fortführung der eigenen Massstäbe – und darin eine auch zu bewundernde Konsequenz. Es gibt kaum Kinder, die so klar und sicher wie ich wissen konnten, wie meine Mutter über das Sterben und den Tod dachte – worüber sie auch zu reden bereit war, jederzeit. Ich fand bei Ihr in den letzten Jahren zu ihren Gedanken, in einer Art weichen Aufbruchs, der früher undenkbar gewesen wäre, und ich konnte so gar nicht anders, als zurück zu bleiben ohne Gram. Wir kommen allein und gehen allein – und ich werde niemals irgendwem vorhalten können, dass ich für ihn zu entscheiden befugt bin, wann es so weit sein soll.

Die wenigsten allerdings erfahren die Gnade, trotz oder gerade wegen einer Krankheit tatsächlich bestimmen zu dürfen, ob sie denn nun eine Behandlung noch wollen, oder nur eine palliative Begleitung. Meiner Mutter wurde das geschenkt, und sie ist in den Zug eingestiegen, der an ihrem Bahnhof hielt. Ohne zu fragen, ohne sich in der letzten Konsequenz gross mit uns zu besprechen. Aber diese Bemerkung ist rein rhetorisch. Was hätten wir denn wohl geantwortet? Eben. In der letzten Konsequenz bleibt uns für unsere Schritte die eigene Verantwortung. Sie werden uns aufgetragen, aufgezwungen oder angeboten. Aber wie wir uns stellen, und ob wir uns sperren oder eben nicht – das bleibt unser Recht zu entscheiden allein.

Wir haben unsere Mutter an jenem Abend allein gelassen, weil wir ganz bewusst alles vermeiden wollten, was ihr den letzten Schritt erschwert hätte, obwohl wir längst nur noch stille Abschiednehmer waren: Auf dem Bahnsteig stehend, die Türen verschlossen, die Abfahrt unvermeidlich, die Scheiben blind.

Wir konnten noch ins Leere winken, aber nichts mehr aufhalten, und genau darin liegt der eigentliche Frieden, den wir finden können.