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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Indien und seine Frauen. Und unsere Bilder.

∞  2 Januar 2013, 12:05


istockphoto.com/erwo1



Indien ist in den Schlagzeilen. Die brutale Vergewaltigung einer Frau in einem Bus durch nicht weniger als sechs Männer prägt das Bild einer rückständigen Gesellschaft, in welcher Frauen keine Chance haben und menschenverachtend behandelt werden. Und doch lässt sich über keine Gesellschaft so wenig eine allgemein gültige Aussage machen, wie über Indien.

Meine Frau und ich lieben Indien und wir fürchten es. Wir haben indische Freunde, sind schon dreimal längere Zeit durch verschiedene Teile von Indien gereist. Wir kochen selbst ab und zu indisch, Thinkabout’s Wife ist mit dem Hinudismus so vertraut, wie man das auf Grund dieser Begegnungen und viel, sehr viel Studium als Westler sein kann – und doch können auch wir nicht sagen: Indien “ist so”. Es ist immer auch ganz anders.

Auch wer Indien nicht kennt, hat die bekannten Schlagworte intus und dazu bestimmt manche konkrete Bilder:
Farbige Kleider, Punkte auf der Stirn, dunkle Augen, schöne Teints, sich bizarr kasteiende Saddus, Kühe auf den Strassen, IT-Facharbeiter, Kastenwesen, Unberührbare, unerwünschte Mädchen unter den Kindern, sichtbare Armut auf den Strassen, bettelnde entstellte Behinderte, Dreck, verzaubert wirkende Paläste, Kinderarbeit, Sikhs, Demokratie, Mahatma Gandhi.


Bild: Thinkabout: “Old Delhi Live”

Schon diese Aufzählung macht deutlich, wie bunt der Strauss fremder Eindrücke über dieses Land für den Besucher sein muss – er ist es schon für den Medienkonsumenten. Zurück zum Thema kommend passt zu diesem Eindruck die Tatsache, dass in einem Land, in dem in vielen Teilen (aber eben nicht überall) Frauen unter gesellschaftlicher Unterdrückung leiden, Indira Gandhi Regierungschefin sein konnte – und aktuell mit Manmohan Singh ein Sikh, also kein Hindu, Premierminister ist.

Das Land, das seine Führung seit mehr als 60 Jahren demokratisch wählt, erbringt also auf diesem Weg immer wieder den Beweis seines Willens, sich der gesellschaftlichen Entwicklung verschreiben zu wollen. Das Land, vielfältiger als jeder Kontinent, ist je nach Region und unterschieden in städtische und ländliche Strukturen sehr fortschrittlich weltoffen bis verstockt verbarrikadiert in ethnischen und althergebrachten familiären Strukturen. Wechselweise leben Angehörige verschiedenster Kasten und unterschiedlicher Religionen friedlich neben- und miteinander, und andernorts gehen sie mit einer unvorstellbaren Brutalität auf einander los.

Mädchen und Frauen werden am einen Ort entweder abgetrieben, verstossen, beklagt, für teure Mitgift baldmöglichst arrangiert verheiratet, und andernorts zum Studium zugelassen und beachtet als feinsinnige, gebildete, die Gesellschaft modernisierende und vorwärts bringende Kräfte.


istockphoto.com/VikramRaghuwanshi

Der Kampf allerdings, diese Veränderungen in den konservativen Elementen der Gesellschaft zu etablieren, ist enorm steinig und schwer. Und so manches Gesetz, das es längst gäbe, gerade zum Schutz der Frauen, findet keine Beamten und Richter, die es anwenden würden. Das gilt auch für den Tatbestand der Vergewaltigung, der an den meisten Orten – natürlich – unter Strafe steht, manchmal sogar nicht unter 10 Jahren Freiheitsentzug, und doch wird damit genau so wenig erreicht, wie nun der Ruf nach Kastration oder der Todesstrafe bewirken würde – es hätte einen gegenteiligen Effekt: Es würde dazu führen, dass es Opfer noch schwerer hätten, ihren Fall zur Anzeige zu bringen oder gar zu einer Verurteilung, weil der Gegendruck der Gesellschaft und nicht zuletzt der eigenen Familie noch grösser würde.

Die Probleme müssen auf der praktischen Ebene gelöst werden, denn nirgends wird der politische Wille auf seine Aufrichtigkeit mehr geprüft, als wenn danach gefragt wird, ob ein politisches Postulat sich in praktischen Anwendungen erfüllt: Die Unterstützung muss darin liegen, dass die gesundheitliche Untersuchung der Opfer verbessert wird, die Polizei ernsthaft ermittelt und die Richter sich nicht mit den Tätern solidarisieren. Wie soll das funktionieren, plötzlich? Gar nicht. Doch dieser erschütternde Fall der mittlerweile gestorbenen 23jährigen Inderin mobilisiert die Massen, und es ist nur auf diesem Weg möglich, das grundlegende Bewusstsein zu ändern. Der Fall dieser Frau mobilisiert diese Massen, weil ihr Schicksal nicht mit den üblichen versteckten Reflexen “erklärt” und fern vom eigenen echten Erschrecken vieler Inderinnen und Inder gehalten werden kann (Reflexe, die auch bei uns wohl bekannt sind):

Die Frau kam nicht aus einer Bar in “leichter Kleidung”, sondern die Studentin fuhr in einem Bus in Begleitung ihres Freundes nach Hause. Sie gehörte auch nicht der Unterschicht an, sondern war Angehörige der Mittelschicht mit guten Berufschancen. Das Schicksal dieser Frau und ihres Freundes, der ganzen Familie, macht breiten Schichten in Indien deutlich, wie fragil die scheinbare Sicherheit ist, in der sich viele von ihnen bewegen, sich um Ausbildung und Beruf bemühen und ein gesellschaftlich offenes Leben zu führen versuchen.

Und gleichzeitig gehören zu diesem Land mit dieser und vieler weiterer Mammutaufgaben auch innere Kräfte, die genau so unfassbar sind wie die Grausamkeiten: Es ist ein Land mit vielen spirtuellen Einflüssen, die Identität stiften, kulturelle Vielfalt bedeuten und einen Ehrgeiz frei legen, sich trotz aller Unterschiede auch als Nation zu beweisen. Indien hat alle Chancen und viele Risiken zu bewältigen. Es lässt sich nicht steuern wie China, Indien schlingert, aber die Entwicklung ist auch hier nicht aufzuhalten. Mit 8% prognostiziertem Wachstum wartet auch auf Indien eine Verlangsamung, aber viele Prozesse der Veränderung werden auch reflektorisch gleich beim Auftreten diskutiert, abgelehnt, durchgesetzt, zurück genommen – es gibt diese vorwärts treibende einheitliche Kraft nicht – und damit für Investoren andere unwägbare Risiken als in China. Doch irgendwie scheint mir, dass dies angesichts der Potenziale auch ganz gesund sein kann: Wer Indien verstehen will, wird nie aufhören dürfen, zuhören und hinsehen zu wollen – und er wird auch dann nicht ohne örtliches Führungspersonal auskommen – noch sehr viel stärker als in China, und nicht nur (aber auch), weil es im Behördenbewilligungs-Dschungel für Externe kein Durchkommen gibt.

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, was aus Indien würde, wenn es seine mannigfaltigen Probleme unter einem gemeinsamen Ziel bündeln und lösen könnte – und gleichzeitig liegt in der Vielfalt der Widerstände auch ein riesiges Potenzial für einen Think Tank, der sich wirklich in der Kunst üben will, Wachstum und Fortschritt so zu definieren, dass er tatsächlich zu den lokalen Bedürfnissen passt und schlussendlich Indien enscheiden zu lassen, was es will. Und wie.

Soviel Solidarität aber darf sein, mit den Frauen dieser Welt ganz allgemein: Es ist einfach unglaublich, ganz egal, wo auf der Welt man Konflikte untersucht: Die Unterdrückung und Vergewaltigung von Frauen scheint ein die Menschenehre zerstörendes Grundübel zu sein, das überall dort aufbricht, wo niederste Instinkte danach trachten, eine gegnerische Grundordnung in ihren Grundfesten zu erschüttern. Ich wende mich jedesmal mit tiefster Abscheu vor der männlichen Niedertracht ab, wenn ich von diesen Dingen höre, meine Seele wird grau und ich frage mich, was mit den Tätern geschieht, wenn sie sich selbst betrachten, wenn sie wieder zur Besinnung gekommen sind: Könnte es sein, dass darin der tiefere Grund für den Mythos liegt, dass Frauen gar nicht unschuldig sein können an ihrer eigenen Vergewaltigung?

Vielleicht haben wir das eines Tages, in ein paar tausend Jahren überwunden…

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Aus der medialen Berichterstattung:
Tiroler Tageszeitung – Inderin nach Vergewaltigung tot, Tätern droht die Todesstrafe
faz.net – Die Frauen, der Tod und ein hilfloser Staat

bei mycomfor vorgestellte Artikel über Indien, ältere und neue, zum Beispiel: – Wie deutsche Firmen in Indien wachsen – Indien umwirbt Afrika – Merkel-Besuch: Indien wird Chefsache – Indien macht’s vor: So gelingt besserer Waldschutz – Kinderarbeit in Indien: Die Spur der Steine

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