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In der Mehrheit Minderheit sein und bleiben

∞  15 November 2011, 20:09

Die kommenden Bundesratswahlen in der Schweiz sind eine gute Gelegenheit, ein paar Eigenheiten der Eidgenossenschaft näher zu beleuchten.


Am 14. Dezember wird sich das bis dann vollständige, neu gewählte Parlament zur Wahl bzw. Bestätigung der Bundesräte versammeln. Es dürfte interessant werden. 2007 hat das Parlament in einer kollektiven Reibung am Grobklotz Christoph Blocher so viel gehobelt, dass die Späne tatsächlich nur so geflogen sind und sich die so genannte Zauberformel in Luft aufgelöst hat. Diese Eruption, dieser Aufruhr hatet aber seinen Antrieb im Bedürfnis nach Bewahrung gehabter sachbezogener politischer Arbeit.

Heute steht die SVP vor der Situation, dass im Parlament mit der BDP-Fraktion der ausgeschlossene Part der Ursprungspartei wohl nicht nur stärker vertreten ist als erwartet – sondern damit auch noch leichter Verbündete in der Mitte findet, weil der eigene Ton sachbezogenere Politarbeit ermöglicht. Widmer-Schlumpf ist praktisch die Galionsfigur dieser neuen Mitte, und es ist durchaus möglich, dass die anderen Mitteparteien ihre Ambitionen während einer verlängerten Amtszeit von Widmer-Schlumpf auf einander abstimmen könnten. In den Wahlen dieses Herbstes wurde der wieder moderatere Umgangston in der Politik mit der Stärkung der neuen Mitteparteien BDP und GLP honoriert und die SVP auf hohem Niveau gestoppt. Dennoch kann eindeutig festgestellt werden, dass die SVP in dieser Konstellation entsprechend ihrer Sitzzahl – und nach dem Abklingen aller Gehässigkeiten – Anspruch auf den zweiten Bundesratssitz hätte, wäre da nicht die Tatsache, dass sich verschiedene Parlamentarier und Fraktionen schwer damit tun werden, mit Widmer-Schlumpf jene Person in die Wüste zu schicken, die das Aufbrechen dieser Strukturen erst ermöglichte. Zudem macht sie einen, nach der Beurteilung der meisten Kritiker, auch im Vergleich zu den anderen Regierungsmitgliedern, guten Job, so dass die sachlichen Argumente für eine ausbleibende Bestätigung als Bundesrätin fehlen.

Womit wir bei der Motivation für diesen Artikel sind, der in dieser besonderen Schweizer Eigenheit liegt:

Es gilt, sich jeden noch so verdienten Anspruch redlich zu verdienen, zumal dann, wenn die bestehenden bisherigen Strukturen Stabilität versprechen. Die – nicht bestrittene – Veränderung im Wählerverhalten könnte kurzfristiger Natur sein, und ein Grund zur Korrektur muss sich richtiggehend aufdrängen.

Solches Denken wäre in jedem anderen Staatswesen Europas undenkbar.


Da führt doch kein Weg an der Formel vorbei, dass die stärkste Kraft im Staat die Regierung bildet, und wenn sie das nicht allein kann, sich ihre Partner sucht. Jede Volkswahl ist DER Moment, in dem endlich eine Veränderung möglich erscheint und auch durchgesetzt wird.

Nun, in der Schweiz haben wir seit vielen Jahren eine Vierparteien-Regierung (und dabei kommen wir mit sieben Ministern aus) – und keine Oppositionspartei kann sich vorstellen, weniger mit zu regieren als ihr nach ihrer Grösse zusteht – und das bedeutet aktuell, dass schon weniger als 10% Wähleranteil dafür ausreichen können. Die Bereitschaft, Bewährtes zu bewahren, hält in exekutiven Besetzungen auch sehr viel stärker als in Parlamentswahlen an einzelnen Persönlichkeiten fest. Bundesräte sind denn auch, wenigstens wenn sie nicht Blocher heissen, sehr viel mehr Minister als Parteimitglieder. Sie verkörpern so etwas wie Landesvater- und –muttertugenden, und die dabei sich manifestierende leise Biederkeit muss kein Nachteil und nicht peinlich sein. Denn nichts mögen Schweizer weniger, als wenn die Nase höher getragen wird, als der Verstand hin reicht, und der Stolz hat, wenn schon, nicht dem eigenen Auftritt, sondern der eigenen Arbeit zu gelten. Bundesräte sind so was wie die ersten Chefbeamten ihrer Ministerien. Gut Wahl will also nicht nur Weile haben, eine gut ablaufende Wahl soll auch eine lange Haltbarkeitsdauer haben.

So machen neue politische, ethnische und kulturelle Strömungen bei uns immer die gleichen Erfahrungen.

Lange vor den Muslimen mit ihren Minaretten haben die Katholiken über Gebühr lange auf eigene Kirchtürme warten müssen. Lange vor der SVP hat die SP scheinbar unerträglich lange auf einen zusätzlichen Bundesratssitz warten müssen. Viel länger als anderswo in Europa haben Frauen um ihr Stimm- und Wahlrecht kämpfen müssen.


Einmal am Ziel allerdings, ist man (und frau) dann tatsächlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Aktuell zählt der siebenköpfige Bundesrat vier Frauen – und wenn etwas in dieser Bundesratswahl wirklich ein Nebenthema ist, dann diese Tatsache.

Also: Wie auch immer das Parlament den neuen Bundestrat bestimmen wird, wir Bürger werden es einzuordnen wissen – und die Lösung wird sich einmitten in einem Gefüge, in dem wir alle sehr viel mehr von den Sachentscheiden betroffen sein werden, die wir- vom bundesrätlichen Ratschluss über die parlamentarische Beratung über das Referendum über die Volksabstimmung – sehr oft am Ende selbst zu verantworten haben. Weil wir nicht nur einen Wahlzettel bekommen, sondern immer wieder Briefumschläge mit Stimmzetteln zu Sachfragen.

Diese Tatsache garantiert, dass sich jede parteiliche oder personelle Veränderung am Ende im Ringen um die Sachfragen bewähren und behaupten muss. Das macht es gestärkten Minderheiten bei uns leichter, gute Miene zu den schleppenden Veränderungen zu machen. Denn zu den Minderheiten gehören wir alle immer wieder. Wird man in diesem Fall ernst genommen, wünscht man sich nicht so schnell die grossen Umbrüche. Das Alte zu verbessern, scheint uns oft erfolgversprechender, als es durch etwas Neues zu ersetzen. So gesehen werkeln Volk und Stände immer weiter an ihrem Diesel herum, wohl wissend, dass er läuft und läuft und läuft und mit seinem Tempolimit auch nicht so leicht an die Wand gefahren werden kann.